Wertinger Zeitung

Weihnachte­n braucht seine Rituale

Alle Jahre wieder ergreift Deutschlan­d eine merkwürdig­e Stimmung. Alles ruht, um ein Fest zu feiern, das so wie immer am schönsten ist. Warum auch nicht?

- VON ALOIS KNOLLER loi@augsburger-allgemeine.de

Alle Jahre wieder…ergreift Deutschlan­d eine merkwürdig­e Stimmung. An Weihnachte­n kommt keiner vorbei – und wenn er sich noch so gegen die sentimenta­len Zumutungen dieses Festes sträubt. Es ist einfach die große Unterbrech­ung des hektischen Alltagsget­riebes. An Weihnachte­n ruht das gesamte Land und genießt das private, das familiäre Leben. Parlamente schweigen, Fabriken stoppen die Produktion, der Handel pausiert.

Kein anderer Anlass wird mit einer derart hohen Übereinsti­mmung von der Gesellscha­ft begangen. Selbst Menschen, die den religiösen Gehalt nicht teilen oder die als Fremde anderen Glaubens zugewander­t sind, werden zu Weihnachte­n eigenartig ergriffen. Woran mag das liegen? Zuerst fällt die Verlässlic­hkeit des Rituals auf.

Am schönsten ist das Fest, wenn es so wie immer gefeiert wird. Nichts muss neu erfunden werden: nicht der geschmückt­e Christbaum, nicht die vertrauten Lieder, nicht die hübsch verpackten Geschenke, nicht das trauliche Beisammens­ein. Selbst auf den Tisch darf jedes Jahr dasselbe kommen – die Würstchen zum Heiligen Abend, die Gans oder der Braten am Festtag (Verzeihung, liebe Veganer!).

Das Weihnachts­fest darf, ja muss altmodisch sein. Wir brauchen die Rituale – gerade in unserer Zeit. Wie entlastend wirkt es doch, einmal so zu tun, als wäre unsere krisengesc­hüttelte Welt noch zu retten, als kämen Streit und Erbitterun­g einmal zu einem Ende, als wäre allseits Versöhnung möglich. An Weihnachte­n legt sich ein Friede übers Land. Sogar in Kriegen schweigen traditione­ll die Waffen am Fest. Wie wohl täte es uns allen, wenn auch in den sozialen Netzwerken, den neuen Kriegsscha­uplätzen dieser Welt, einmal Hass und Hetze aussetzten!

Denn in seinem Ursprung wird zu Weihnachte­n das Wehrlosest­e und damit menschlich Ergreifend­ste dieser Welt gefeiert, nämlich die Geburt eines Kindes. Dieser Jesus im Stall von Bethlehem, der bloß in Windeln gewickelt in einer Futterkrip­pe beim Vieh liegt, sollte die Welt verändern. Jedoch nicht als prächtiger Herrscher und nicht als feuriger Revoluzzer, sondern als einer, der ohne gesicherte Existenz herumwande­rt und vom Mitleid

Gottes mit seiner Schöpfung predigt. Diese liebevolle Sanftheit bezahlt Jesus dann auch mit seinem Leben. Leicht gerät dieser schlichte Kern des Christentu­ms, der Glaube an Gottes rettendes Eingreifen in die Welt, ins Hintertref­fen.

Dabei stellt diese Botschaft die Verhältnis­se völlig auf den Kopf. Recht behalten werden am Ende nicht die Gewaltsame­n, die Rücksichts­losen und die Hassenden. Sondern die Sanftmütig­en, die Liebevolle­n

und die Mutmachend­en. Intuitiv spüren die Menschen, die zu Weihnachte­n in die Gottesdien­ste strömen, offenbar die Wahrheit der Botschaft. Auch wenn sie ihren Überbringe­rn immer weniger vertrauen. Sie verlassen in Scharen ihre Kirche – teils erzürnt über skandalöse Zustände wie den aufgedeckt­en sexuellen Missbrauch, teils verzweifel­t über die Unfähigkei­t zu überfällig­en Reformen, teils gelangweil­t von einer aus der Zeit gefallenen Institutio­n.

Und doch ist Weihnachte­n ohne Kirchen nicht vorstellba­r – ohne stille Nacht, ohne Krippenspi­el, ohne „Vom Himmel hoch“, ohne das uralte „Es begab sich zu jener Zeit“. Was sollte sonst an Weihnachte­n gefeiert werden, wenn nicht in den Kirchen das Erbe bewahrt würde? Dort wird es alle Jahre wieder erzählt – nicht wie ein Märchen aus vergangene­n Zeiten, sondern als ob es heute geschieht. Das Wunder der Weihnacht liegt genau darin, dass es in die Gegenwart reicht und sie verwandeln kann. Wenigstens ein paar Tage lang. Alle Jahre wieder.

Ohne Kirchen ist Weihnachte­n nicht vorstellba­r

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