Wertinger Zeitung

O du fröhliche!

- VON SONJA DÜRR

Musik Was wäre Weihnachte­n ohne die Lieder, die dazugehöre­n? Und ohne die Chöre, die landauf, landab Konzerte geben? Immer mehr Menschen wollen in Gemeinscha­ft singen. Trotzdem gibt es traditione­lle Gesangsver­eine, die sich auflösen. Wie passt das zusammen?

Senden/Harburg Bevor es weihnachtl­ich werden kann, müssen erst ein paar andere Töne raus. Also steht die Runde, die sich jeden Mittwochab­end in der Werner-ZieglerMit­telschule in Senden trifft, auf und aus dem Halbkreis schallt ein „Oh-oh-oooh-ooooh“. Dann ein „Tra-la-la-la-laaa“. Bis Markus Romes, der Mann am Flügel, schließlic­h das erste Weihnachts­lied des Abends anstimmt, „This little light of mine“, ein Gospelsong, und alle mitsingen. Obwohl es damit ja nicht getan ist. Weil man schon verstehen muss, was dieses Licht bedeutet, hat Romes vorher erklärt. „Ein Lied ist nicht nur eine Kompositio­n, die man vorträgt. Es ist etwas, das man als Schauspiel­er ausdrückt.“

Die Rollen in diesem Chor, der den etwas sperrigen Namen „Kreischor des Iller-Roth-Günz-Sängerkrei­ses“trägt, sind klar vergeben. 20 Frauen links und in der Mitte, rechts die sieben Männer, deren Stimmen besonders wichtig sind. Romes hämmert in die Tasten, singt „Everywhere I go“und sagt: „Reintanzen in die Musik, nicht einfach nur so dastehen.“Also stampfen die Sänger, bewegen die Arme, lassen die Hüften kreisen. „Und jetzt“, sagt der Chorleiter, „richtig abrocken.“Die Arme gehen nach oben, so, als wollten die Sänger Luftballon­s wegschubse­n. Sogar Paula Unseld, mit 92 die Älteste in der Runde, reckt die Hände in die Höhe.

Nun stellt sich der Unbedarfte so eine Chorprobe anders vor. Nicht im kühlen Neonlicht des Klassenzim­mers, sondern im Kerzensche­in. Das mag an der Nostalgie liegen, die man nun mal mit den Gesangskre­isen verbindet. Aber auch am Advent und den Liedern, die so unverrückb­ar zu dieser Zeit gehören wie Lebkuchen und Glühwein. Was also ist mit „O du fröhliche“? Was mit „Es ist ein Ros entsprunge­n“oder „Alle Jahre wieder“? Muss ein Chor so etwas nicht zu Weihnachte­n proben?

Markus Romes, der Musikpädag­oge und Profimusik­er, der in Ulm zu Hause ist, lächelt erst einmal. Und sagt, dass der Kreischor ohnehin etwas Besonderes ist. Weil alle hier so viel Spaß haben. Weil sie so eifrig bei den Proben dabei sind. Erst recht bei Weihnachts­liedern.

diesen, sagt Romes, gehe „so eine Magie“aus, die seine Sänger lieben. Ihm kommt es auf die Stilvielfa­lt an, darauf, dass die ambitionie­rten Leute hier etwas Neues entdecken, vorankomme­n. „Das ist, wie wenn man im Restaurant etwas auf der Karte findet, das man vorher noch nicht kannte. So ist es auch bei der Musik. Es sollte immer was zu knabbern dabei sein.“

An diesem Abend ist es ein wunderschö­nes altes englisches Kirchenlie­d. Die Sänger schlagen die Noten von „O come, o come Emmanuel“auf. Romes liest den Text langsam vor, die Sänger sprechen ihn nach. „Alle singen alles“, sagt er dann. Einmal, noch einmal. Eine Wiederholu­ng reiht sich an die nächste, bis die Aussprache passt, bis der Ton an den schwierige­n Stellen der richtige ist. Die Minuten verstreich­en, konzentrie­rte Ruhe ist auf den Gesichtern zu sehen. Festlicher Gesang hallt durch das Klassenzim­mer, das plötzlich ein bisschen wärmer wirkt. „Hach, ist das schön“, flüstert eine der Frauen, die zu den Altstimmen gehört. Vorne am Flügel hält Romes inne und sagt: „Es klingt wunderschö­n.“

Wahrschein­lich meint Jürgen Schwarz solche Momente, wenn er die Begeisteru­ng für das Chorsingen erklären will oder warum gerade zu Weihnachte­n deutlich wird, welchen Stellenwer­t Chöre haben – bei Weihnachts­märkten, Adventssin­gen, bei den vielen Konzerten, die es in diesen Tagen landauf, landab gibt. Alle Jahre wieder eben. Denn das will Schwarz in seiner Funktion als Präsident des Chorverban­ds Bayerisch-Schwaben gleich klarstelte­n len: „Chorsingen ist wieder in und nie war die Vielfalt größer.“Auch, wenn es eine Zeit gab, in der sich manch einer fast geniert hat, wenn man sagte, man singt im Chor. „Wir haben schon vor einigen Jahren gemerkt: Au weh zwick, wenn wir nichts tun, sterben wir aus“, erklärt Schwarz. Heute sehen die Zahlen anders aus. 670 Chöre zählte der Verband im vergangene­n Jahr – 27 Prozent mehr als noch 2006. Auch die Zahl der Sänger ist gestiegen, auf 18 500. Und da sind die Kirchenchö­re noch gar nicht mitgezählt.

„O du fröhliche“also, wenn man so will? Gerade jetzt zur Weihnachts­zeit? So einfach ist es auch wieder nicht. Die Kirchenchö­re etwa werden immer weniger. Im Bistum Augsburg zählte man 2006 mehr als 900, zehn Jahre später nur noch 680. Das mag sicher auch daran liegen, dass die Bindung zur Kirche nachlässt. In Augsburg versucht man längst, sich dem „Chorsterbe­n“entgegenzu­stellen – etwa indem man bei Kindern und Jugendlich­en ansetzt. Oder indem sich Chöre mehrerer Pfarreien zusammentu­n.

Daheim, am Esstisch in Harburg, winkt Franz Heidinger ab. Natürlich haben sie darüber nachgedach­t, mit einem der anderen Gesangsver­eine in der Gegend zu fusioniere­n. Aber entweder pflegen diese anderes Liedgut. Oder der Gesang klingt

anders. Und einen alten Baum verpflanzt man nun mal nicht so einfach. 170 Jahre hat der Liederkran­z Harburg, dem Heidinger die letzten 23 Jahre vorgestand­en ist, auf dem Buckel. „Der zweitältes­te Verein im Ort, so alt wie die Stadt Harburg selbst“, sagt der 70-Jährige. Bisher zumindest. Im April haben die 18 Männer und Frauen ihr Abschiedsk­onzert gegeben, im Oktober die Vereinsauf­lösung beschlosse­n. „Stellen Sie sich das mal vor“, sagt Heidinger und fährt sich übers Gesicht. Man merkt ihm an, wie nah ihm das alles geht.

Nun sind die Harburger ja nicht die Einzigen. In Hofstetten im Kreis Landsberg hat sich in diesem Jahr der Männergesa­ngsverein aufgelöst. Oder im Jahr davor die Sängerrund­e der Naturfreun­de Gersthofen. Fünf bis acht Mal im Jahr gehen beim Chorverban­d Bayerisch-Schwaben solche Meldungen ein. „Das kann man leider nicht aufhalten“, sagt Schwarz. Vor allem die Männergesa­ngsvereine haben es schwer, weil sie kaum Nachwuchs finden und immer älter werden. Gut möglich aber, dass es auch an den Arrangemen­ts liegt. Dass manche lieber Gospels singen als „Alle Jahre wieder“. Lieber moderne Stücke als „Vom Himmel hoch, da komm ich her“.

Im Harburger Liederkran­z, der früher ein reiner Männerchor war, hat man sich 2002 mit den Frauen zusammenge­tan. Aber selbst das hat das Problem nicht gelöst. Auch, wenn man aktiv um neue Sängerinne­n und Sänger geworben hatte, kamen kaum neue dazu. „Es will sich doch keiner mehr binden“, sagt Heidinger und zuckt mit den SchulVon tern. Jeden Dienstag Probe, dazu noch die Auftritte, das kostet eben Zeit – und die fehlt vielen, gerade wenn man beruflich eingespann­t oder in anderen Vereinen aktiv ist.

Heidinger blättert durch den Ordner, in dem er Zeitungsbe­richte über Liederkran­z-Auftritte abgeheftet hat. Die Köpfe darauf, sie sind mit der Zeit immer weniger geworden. Von einigen musste sich der Liederkran­z in den vergangene­n Jahren verabschie­den, auch jüngere sind gestorben. Tragische Geschichte­n. Zuletzt war die Jüngste im Chor 62, der älteste Tenor 94. Die Tenöre, sagt Heidinger, wurden ohnehin immer weniger. Am Schluss waren es so wenige, dass der Liederkran­z nur noch dreistimmi­g singen konnte. „Das war nicht mehr dasselbe.“

Als dann die Chorleiter­in nach 30 Jahren ihren Rückzug bekannt gab, konnte Heidinger nächtelang nicht mehr schlafen. Zwei Jahre suchte er nach einem neuen Dirigenten. Er hat Leute abgeklappe­rt, die den Liederkran­z leiten könnten, beim Chorverban­d um Hilfe gebeten, Anzeigen geschaltet – und nur Absagen bekommen. „Die, die das könnten, haben alle schon einen Chor.“

Für Markus Romes, der in Senden gerade das dritte Stück des Abends anstimmt, ist der Kreischor die erste Station am Mittwochab­end. Danach geht es weiter zur Probe der Chorgemein­schaft Dettingen-Heuchlinge­n. Insgesamt sieben Chöre im Umkreis von Ulm leitet der 53-Jährige. Manche, die mittwochs hier in Senden singen, sind auch bei anderen Projekten dabei. Oliver Schmalzrie­d zum Beispiel, mit 45 Jahren einer der Jüngsganz in der Runde, ist auch Teil des Konzertcho­rs „Klangreich“. Da, sagt er, sind es sogar noch ein paar Männer mehr.

Vorhin ist Schmalzrie­d noch in den Musiksaal der Schule gehuscht, ein paar Minuten, nachdem die Probe begonnen hat. Es hat mal wieder länger gedauert in der Arbeit. Jetzt ist vom Stress des Arbeitstag­es nichts mehr zu spüren. Romes spielt die ersten Noten von „May the Lord send Angels“, ein getragenes, sanftes Gospel-Stück. Eines, zu dem Kerzensche­in besser passen würde als das grelle Neonlicht des Klassenzim­mers. Trotzdem merkt man, wie eine festliche Stimmung den Raum durchdring­t, wie alles ein bisschen ruhiger wird. Dann, als die letzten Töne verklungen sind: ein Moment der Stille. Und ein gehauchtes, gemeinsame­s „Ooooohhh, wie schön“, das den Abend beschließt.

Vielleicht ist es das, was Markus Romes meint, wenn er von der „tiefen Sehnsucht nach Gemeinscha­ft“erzählt, die er bei seinen Chören spürt. Oder wenn Verbandspr­äsident Jürgen Schwarz sagt: „Man sieht, dass die Menschen ein großes Bedürfnis haben loszulasse­n.“

Oliver Schmalzrie­d lächelt – befreit, beseelt. „Nach der Probe ist man happy“, sagt er. Und die Frau, die gerade ihren Ordner samt Noten in die Tasche gepackt hat und nach draußen drängt, dort, wo die ersten, dünnen Schneefloc­ken durch die Nacht schwirren, nickt eifrig. „Voller Endorphine ist man da.“

Sonja Stopp, die vorhin noch ganz links stand, wo der Sopran 1 seinen Platz hat, weiß genau, wie sich das anfühlt. Sie hat die Arme geöffnet, die Hüften kreisen lassen. Sie hat sich in die Lieder hineingefü­hlt, die Töne aus sich herauskomm­en lassen, anderthalb Stunden Lebensfreu­de pur. Jetzt steht die Frau, die in Nordholz bei Krumbach wohnt, mit roten Wangen da und erzählt, dass sie erst lernen musste, wie wichtig Musik ist.

Früher, sagt die 53-Jährige, hat sie in vier von Romes’ Chören gesungen. Dann wurde sie krank, verbannte das Singen aus ihrem Leben. Heute weiß sie, dass sie singen muss, um glücklich zu sein. Und dass sie die Mittwochab­ende nicht verpassen will – ob zu Weihnachte­n oder im restlichen Jahr. „Ich möchte nicht ohne Singen sein.“

„Es will sich doch heute keiner mehr binden.“

Franz Heidinger

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Fotos: Alexander Kaya (3), Gerhard Markert Aufstehen, die Arme nach oben, und es dann einfach rauslassen: So sieht das aus, wenn Markus Romes mit dem Kreischor des Iller-Roth-Günz-Sängerkrei­ses probt.
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Oliver Schmalzrie­d singt gleich in mehreren Chören.
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Paula Unseld kommt mit ihren 92 Jahren noch jede Woche zur Chorprobe.
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