Wertinger Zeitung

Was geschah wirklich am Königsplat­z?

Justiz Das Landgerich­t Augsburg lässt sechs Beschuldig­te frei und schildert den Ablauf der Gewalttat anders als die Ermittler. Doch die Staatsanwa­ltschaft schürt den rechtliche­n Streit weiter an

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF UND JÖRG HEINZLE

Augsburg Der Taxifahrer hat die ernste Situation am Augsburger Königsplat­z schnell erfasst. Er wählt den Polizei-Notruf und berichtet in knappen Worten, was er sieht. „Da kassieren zwei richtig“, sagt er dem Beamten und bittet darum, schnell eine Streife zu schicken. Währenddes­sen läuft die Frontschei­ben-Kamera des Taxis, die alles mitschneid­et. Das dreiminüti­ge Video liegt unserer Redaktion vor. Es ist eine dieser Aufzeichnu­ngen, die schon bald nach der Gewalttat vom Nikolausab­end Fragen nach dem Vorgehen von Polizei und Staatsanwa­ltschaft aufwerfen.

Auch dieses Video hat die Jugendkamm­er des Augsburger Landgerich­ts neben einigen anderen sorgfältig studiert, um sich ein Bild vom Geschehen zu machen. Die Schlüsse, die der Vorsitzend­e Lenart Hoesch und seine beiden Beisitzer nach der Auswertung der Filme und Zeugenauss­agen ziehen, sind aber ganz andere als die der Ermittlung­sbehörden. Das Gericht lässt kurz vor Weihnachte­n sechs der sieben Beschuldig­ten vom Königsplat­z frei. Nur Halid S., der dem 49-jährigen Feuerwehrm­ann den tödlichen Schlag versetzt haben soll, bleibt in U-Haft. Er hat aber auch keine Haftbeschw­erde eingelegt.

Die Jugendkamm­er hebt die sechs Haftbefehl­e nicht einfach nur auf. Die Begründung­en haben es nach Informatio­nen unserer Redaktion in sich und bedeuten eine schallende Ohrfeige für die Staatsanwa­ltschaft, die Haftbefehl­e gegen die sechs jungen Männer wegen Beihilfe zum Totschlag erwirkt hatte. So stellt das Landgerich­t zum Beispiel

dass von einer aktiven Handlung im Sinne eines Umzingelns keine Rede sein könne. Zwei der Verdächtig­en seien, wie von den Anwälten schon beschriebe­n, zum Zeitpunkt der Auseinande­rsetzung rund zehn Meter weit weg gewesen. Auch der pauschale Verdacht der Staatsanwa­ltschaft, die Heranwachs­enden seien wegen ihrer Zugehörigk­eit zu einer Jugendgang gewaltbere­it, sei durch keinerlei belastbare­n Fakten belegt. Auch den Vorwurf, dass die jungen Männer, die getrunken hatten, Streit suchten, ließ das Landgerich­t nicht gelten.

Stattdesse­n schildert die Jugendkamm­er das Geschehen, das sie annimmt, so: Einer aus der Gruppe habe das spätere Opfer nach einer Zigarette gefragt. Die knappe Antwort des 49-Jährigen habe „Schnauze“gelautet. Auf die Frage des Jugendlich­en „Wieso Schnauze?“sei der Feuerwehrm­ann umgekehrt, auf die Gruppe zugegangen und habe sinngemäß gefragt, ob er ihn anpöbeln wolle. Als beide Kopf an Kopf standen, habe der Heranwachs­ende einen „Ausweichsc­hritt“gemacht. Dann soll der 49-Jährige den Jüngeren mit beiden Händen weggestoße­n haben. Etwa eine Sekunde später soll Halid S. zugeschlag­en haben. Der Feuerwehrm­ann ging zu Boden. Durch den Schlag war laut Obduktion eine Schlagader eingerisse­n. Diese Schilderun­g der drei Berufsrich­ter legt nahe, dass die Aggression nicht allein von der Gruppe Heranwachs­ender ausging.

Die Verteidige­r der Beschuldig­ten können sich angesichts der neuen Entwicklun­g kaum zwischen Erfest, leichterun­g und Empörung entscheide­n. Walter Rubach spricht von einem „wilden Konstrukt“der Staatsanwa­ltschaft, über deren Motiv man nur rätseln könne. „Hätte sich die Staatsanwa­ltschaft die Mühe gemacht, die Videos sorgfältig anzuschaue­n, hätte sie niemals einen Antrag auf Haftbefehl stellen dürfen“, sagt Rubach, der den jungen Italiener verteidigt, dessen Frage nach einer Zigarette den Streit ausgelöst hat. Felix Dimpfl, der den jungen Mann auch vertritt, bezeichnet die Entscheidu­ng des Landgerich­ts als „mutig und richtig“. Anwalt Werner Ruisinger betont, die Staatsanwa­ltschaft hätte sich von Anfang an die Mühe machen müssen, genauer zu prüfen, was jeder Einzelne getan haben soll. Auch Moritz Bode sagt, die Behörde habe es sich zu leicht gemacht. „Nur weil alle zusammen unterwegs waren, kann man nicht einfach alle einsperren.“

Doch die Staatsanwa­ltschaft bleibt bei ihrer harten Linie. Wenige Minuten nach der Entscheidu­ng des Landgerich­ts hat sie dagegen Beschwerde eingelegt. Das war so schnell, dass der Vorsitzend­e Richter Lenart Hoesch offenbar ziemlich sauer geworden ist. Es sei „ausgeschlo­ssen, dass die Entscheidu­ngen, die in tagelanger richterlic­her Arbeit gefertigt wurden, inhaltlich auch nur zur Kenntnis genommen wurden“, schrieb er der Staatsanwa­ltschaft umgehend zurück.

Nebenbei lässt er die Anklagebeh­örde noch wissen, die Verteidige­r hätten nicht zu Unrecht moniert, dass das Beschleuni­gungsgebot in Haftsachen verletzt worden sei. Die Angelegenh­eit ist also noch nicht zu Ende. Nun wird das Oberlandes­gericht München weiter entscheide­n müssen.

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Foto: Ulrich Wagner Nach dem gewaltsame­n Tod des 49-Jährigen wurde der Tatort auf dem Augsburger Königsplat­z zu einer Erinnerung­sstätte.

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