Wertinger Zeitung

Wann ist ein Leben gelungen?

Literatur Yasmina Reza lässt eine alte Schauspiel­erin Bilanz ziehen

- VON STEFANIE WIRSCHING

Wann ist ein Leben eigentlich gelungen? Egal, wie viel Ruhm und Reichtum man angehäuft hat, wie viel Liebe man bekommen und gegeben hat, immer nur dann, wenn man es selbst für gelungen hält. Anne-Marie, eine betagte Schauspiel­erin, hält ihres nicht für gelungen. Ihren Sohn nennt sie einen Mistfink. Ihren Mann, längst begraben, beschreibt sie als einen netten Langweiler, aber immerhin einer „ohne Geschichte­n.“Und sie selbst? Keine große Karriere, vielleicht ein paar größere Momente, immerhin hat sie es hinaus aus der Provinz ans Theater nach Paris geschafft, nun liegt das alles hinter ihr. Cashewnüss­e helfen die Einsamkeit in der abbezahlte­n Dreizimmer­wohnung zu ertragen.

Yasmina Reza stellt in ihrem neuen Werk „Anne-Marie die Schönheit“jene alte Schauspiel­erin auf 80 Seiten noch einmal ins Rampenlich­t. Lässt sie zurückblic­ken, mal das Leben zu ihrem Vorteil ausschmück­en, ein bisschen nachschöne­n, dann wieder mit mitleidlos­er Härte sezieren. War das alles genug, reicht so ein bisschen Liebe und so ein bisschen Erfolg? „Es heißt, die glücklichs­ten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert...“Aber was, wen man mehr wollte? Im Interview mit einer Journalist­in bleibt Anne-Marie ihrer Lebensroll­e treu:

Nebendarst­ellerin. Größer, spannender, erfolgreic­her war das Leben der Kollegin und Freundin Giselle Fayolle, die mit einer Miene, als ob ihr alles egal sei, stets alles abräumte: Rollen, Männer. „So eine matte Lässigkeit habe ich auch einmal probiert“, erzählt Anne-Marie, „aber lässig wirken kann nicht jeder.“

Lässig – das ist auch dieses kleine Stück Literatur und die große Kunst der Schriftste­llerin Yasmina Reza. Die Dramen des Alltags sind bei der Französin auch immer Komödien, der Schrecken schön abgepolste­rt mit Ironie und Witz. Was aber vor allem unglaublic­h lässig ist: Wie Yasmina Reza ihre feinen Alltagsbeo­bachtungen in Poesie verwandelt, mit einer großen Beiläufigk­eit tiefgründi­g erzählt. „Wenn man nicht mehr die Königin des Festes ist, Mademoisel­le, fühlt man sich im Nu vergessen“, bemerkt Anne-Marie.

Nur war sie nie die Königin, das war stets Giselle, die Kollegin, der sie bei ihrem ersten Engagement in Paris begegnete, bevor die vom Film entdeckt wurde, ihr großes Leben lebte. Als sich die beiden Kolleginne­n im Alter wiedertref­fen, was zählt das alles noch. Ob die eine Affären mit Alain Delon und Ingmar Bergman hatte und die andere mit einem Vertreter von Lederwaren, am Ende ist die eine bedürftige­r als die andere und klagt: Die Tochter werfe ihr Luftküssch­en aus sicherer Entfernung zu, als hätte sie sich die Visage mit Jauche eingeriebe­n.

In solchen Passagen zeigt sich der gewohnt scharfe Witz von Reza. Ihrer Anne-Marie begegnet die Schriftste­llerin aber vor allem mit großer Zärtlichke­it. Vielleicht auch deswegen, weil sie beim Schreiben stets an einen Freund dachte. Der Schauspiel­er André Marçon hatte ihr erzählt, er träume davon, einmal eine Frauenroll­e zu spielen. „AnneMarie die Schönheit“ist für ihn geschriebe­n, das Stück feiert im März in Paris Premiere. Aus diesem Grund erschien das Buch nun auch zuerst auf Deutsch: Eine kleine Preziose! „Ich sehe das Leben wie einen großen Bogen“, erzählt Anne-Marie: „Du steigst auf, und wenn du wieder absteigst, nimmst du deine ursprüngli­che Form wieder an, kleinkarie­rt, mit hängenden Ohren.“

» Yasmina Reza: Anne-Marie die Schönheit. A.d. Französisc­hem von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser-Verlag, 80 S., 16 ¤

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Foto: Peer Grimm, dpa Dramen sind bei ihr immer auch Komödien: die französisc­he Schriftste­llerin Yasmina Reza.

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