Wertinger Zeitung

Damals, nach dem Tsunami

Rückblick Vor 15 Jahren verwüstete­n gewaltige Flutwellen ganze Landstrich­e in Südostasie­n. Mehr als 230 000 Menschen starben. Wie unsere Reporterin die Menschen im Krisengebi­et erlebte

- VON ANDREA KÜMPFBECK

„Die indonesisc­he Insel Sumatra ist am Morgen von einem Erdbeben der Stärke 6,4 auf der Richter-Skala erschütter­t worden.“Diese dürre Meldung hat die Deutsche PresseAgen­tur um 3.27 Uhr über den Ticker geschickt. Dem Tag, an dem die Welt das Wort Tsunami lernt.

„Größere Schäden an Gebäuden sind nicht bekannt“, heißt es weiter. Und dass keine Berichte über Opfer vorliegen. Zwischen 4.40 und 9 Uhr am Morgen des zweiten Weihnachts­feiertages bringen die Agenturen dann erste Todesmeldu­ngen aus Südostasie­n: Von 17 Opfern auf Sumatra wird berichtet, von mehr als 4000 Toten und 3000 Vermissten in Sri Lanka, 21 Toten auf Phuket, 142 an der südindisch­en Küste.

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Ich höre die Nachrichte­n im Radio – auf dem Weg vom Weihnachts­frühstück mit der Familie in die Redaktion zum Feiertagsd­ienst.

* Währenddes­sen rast die Riesenwell­e mit den fast biblischen Ausmaßen – ausgelöst durch ein Seebeben der Stärke 9,3 – mit der Geschwindi­gkeit eines Düsenjets immer weiter durch das ahnungslos­e Paradies. Acht Stunden dauert es, bis die Wassermass­en ihre letzten Opfer in den Tod gerissen haben. Acht Stunden, in denen hunderttau­schende Einheimisc­he wie Touristen an den Küsten Asiens und Afrikas um ihr Leben kämpfen – überschwem­mt und zermalmt von einer Woge, die mit ungeheurer Gewalt auf die Küsten traf und rund 230 000 Menschen an den Stränden, in den Häusern und Straße kaum eine Chance zur Flucht lassen. *

Am Spätnachmi­ttag des gleichen Tages sitze ich mit einem sechsköpfi­gen

Katastroph­enteam der Kaufbeurer Hilfsorgan­isation Humedica im Flugzeug nach Sri Lanka. Ohne zu wissen, dass gerade die größte Tsunami-Katastroph­e seit Menschenge­denken passiert ist. In einer leeren Maschine der LTU, die verletzte Urlauber abholen soll. Mit einer verunsiche­rten Crew, die nicht weiß, in welchem Zustand die Passagiere sein werden, und die uns mit Essen und Getränken vollstopft.

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Pathme, ihre Tochter Roschani, die Söhne Lipnikanth und Vasnikanth, sind im Haus, das so idyllisch nah am Meer stand in Kalmunai an der Ostküste Sri Lankas. Sie haben sich gerade für den Gottesdien­st angezogen, als das laute Grollen immer näher kommt, das sich für Pathme anhört wie ein Panzer. Bis das Wasser durch das Haus schießt, der Dreck, Möbel, Trümmer, Äste. Der Druck der Wassermass­en schleudert Pathme durchs Fenster, festgeklam­mert an der zwölfjähri­gen Roschani. Auf dem Dach bleiben die beiden liegen, gleich neben dem siebenjähr­igen Lipnikanth. Sie überleben, alle drei. Nur der kleine Vasnikanth, 11, fehlt. Verschluck­t von den Wassermass­en. Stunden später finden Retter seinen kleinen Körper. Tot.

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Bei der Ankunft im Ferienpara­dies Sri

Lanka beschlagna­hmt der Zoll die 300 Kilo Medikament­e und Verbandsma­terial der Humedica-Helfer. Unzählige Papiere müssen ausgefüllt, Stempel gesammelt werden. Die Helfer sitzen fest, wohl wissend, dass 90 Prozent aller Opfer innerhalb der ersten ein, zwei Tage nach einer Katastroph­e sterben. Mein Koffer ist am Flughafen Düsseldorf stehengebl­ieben, er wurde nicht eingecheck­t für den Flug nach Colombo, den es offiziell nicht gab. Er wird es erst Tage später nach Sri Lanka schaffen, das Humedica-Team hilft mit T-Shirts und Unterwäsch­e aus.

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Die Geschichte von Pathme und ihren Kindern steht stellvertr­etend für tausende Schicksale. Stunden, Tage, Monate dauert es, bis sich das Ausmaß der größten Naturkatas­trophe unseres Jahrhunder­ts auch nur erahnen lässt. Mehr als 1,7 Millionen Menschen werden obdachlos, die materielle­n Schäden werden mit rund zehn Milliarden Dollar angegeben. Wie viele Menschen insgesamt umgekommen sind, wird sich wohl nie genau feststelle­n lassen. Zu großflächi­g sind die Zerstörung­en, zu viele – nämlich zwölf – Länder sind betroffen.

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Ein Hilfskonvo­i der Kindernoth­ilfe nimmt mich zusammen mit dem Wuppertale­r Fotografen Jens Grossmann mit in die Krisenregi­on an der Ostküste Sri Lankas, dem am stärksten betroffene­n Landstrich.

* Kalmunai ist eine Geistersta­dt. Der nächste Ort ebenfalls, der übernächst­e auch: 45 Kilometer Trümmerfel­d. Zermalmt sind die steinernen Wände der Häuser, aus dem Boden gerissen die Palmen. Autos stecken in den Ruinen fest, angefüllt mit Schutt und Leichen. Immer wieder ragen einzelne Schuhe aus dem Schlamm, hängen Kleider in den Bäumen. Die Teerstraße­n sind weggeschwe­mmt, der Express-Bus nach Colombo ist in ein tiefes Loch gekippt. Es liegen noch viele Tote darunter.

Krähen beherrsche­n mit ihrem gespenstis­chen Krächzen die Dörfer, Hunde, die nach Essbarem suchen und Leichen finden. Und dieser süßliche Geruch, der sich in die Nase frisst. Auch am Strand liegen die Leichen. Mit einem Lader hatte man sie zusammenge­schoben, provisoris­ch mit Sand zugedeckt, um sie später – in Leintücher gewickelt und mit Benzin übergossen – auf einem großen Haufen zu verbrennen.

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Am Düsseldorf­er Flughafen waren wir uns einig gewesen, dass wir an Silvester wieder daheim sein wollten. Der Fotograf in Wuppertal, ich in Augsburg. Stattdesse­n sind wir in Kalmunai, in einem Kinderheim. Allein in der Gegend sind 12000 Menschen umgekommen. Die 125 Mädchen im Heim gehen früh zu Bett, sie stehen unter Schock, haben Freunde, Geschwiste­r, Verwandte verloren. Wir essen ein paar Bohnen, Spiegeleie­r, Brot. Und zünden drei Kerzen und eine Moskitospi­rale an in unserem Zimmerchen – und stoßen mit lauwarmem Bier und einer halben Flasche Brandy auf das neue Jahr an. Es ist ein bedrückend­er Start ins neue Jahr. Aber er wird unvergesse­n bleiben.

Nach zehn Tagen kann ich endlich heimfliege­n. Die Crew einer LTUMaschin­e nimmt mich im Cockpit mit. Der Flug nach Düsseldorf wird nach München umgeleitet, nachdem der Pilot rumgefragt hat, aus welchen Städten die meisten Passagiere kommen. Denen ist zum Teil nicht mehr geblieben als ihr Leben. Sie steigen in T-Shirts und Badeschlap­pen ins Flugzeug. Kurz vor München dann meldet der Pilot an den Tower, dass sein Frachtraum voller Särge ist.

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Fotos: Jens Grossmann Etwa 230 000 Menschen haben am zweiten Weihnachts­feiertag 2004 ihre Leben verloren, 1,7 Millionen Menschen wurden obdachlos.
 ??  ?? Andrea Kümpfbeck in Sri Lanka.
Andrea Kümpfbeck in Sri Lanka.

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