Unbekümmert im schlimmsten Schlamassel
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Caroline Link verfilmt das außergewöhnliche Jugendbuch von Judith Kerr. Ein Mädchen muss sich mit dem Exil abfinden. Die Regisseurin zeigt wieder ein gutes Gespür für Kinderdarsteller
In der Literatur und im Kino gibt es nur wenige, gelungene Versuche aus der Kinderperspektive – also die Gegenwart als alleinigen Richtwert anzuerkennen –, von großen gesellschaftlichen Umwälzungen zu erzählen. In jüngerer Zeit näherten sich Filme wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“(2008) nach dem Roman von John Boyne oder „Lauf Junge lauf“(2013) nach der autobiografischen Erzählung von Uri Orlev den Grauen des Nationalsozialismus auf erhellende Weise mit dem Blick des Kindes an.
Nun hat Oscarpreisträgerin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“, „Der Junge muss an die frische Luft“) den Jugendbuch-Klassiker „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“von Judith Kerr für die Leinwand adaptiert. Aus der Sicht der neunjährigen Anna (Riva Krymalowski) erzählt Kerr darin von den Erlebnissen ihrer eigenen Familie, die nach Hitlers Machtergreifung 1933 Hals über Kopf aus Deutschland flüchten musste. Ein Koffer, ein paar Kleider, zwei Bücher und ein Stofftier – so lauten die Packanweisungen der Mutter (Carla Juri). Das stellt Anna vor eine schwierige Entscheidung: Kommt ihr geliebtes rosa Kaninchen oder der Teddybär mit auf die überstürzte Reise? Sie entscheidet sich für den Bären mit dem mitleiderregenden Blick, während das Kaninchen in Deutschland bei Hitler bleiben muss. Annas Vater (Oliver Masucci) ist schon vor wenigen Tagen Hals über Kopf in die Schweiz gereist. Dem angesehenen Journalist und Nazi-Kritiker drohte nach der Machtergreifung die Verhaftung.
Als Anna mit ihrer Mutter und dem Bruder in Zürich ankommt, übernachten sie in einem schmucken Luxushotel. Aber das ändert sich bald. Die finanziellen Rücklagen der Geflüchteten sind knapp, und so zieht die Familie in einen Gasthof auf dem Lande. Die Berge, das Dorf, die Mitschüler, die einen schwer verständlichen Dialekt sprechen – alles ist neu für Anna, die ihr Berliner Zuhause, die liebenswerte Haushälterin Heimpi (Ursula Werner) und ihr rosa Kaninchen vermisst. Aber bald weckt das Neue ihr Interesse, selbst an das provisorische Leben im Gasthof gewöhnt sich das Kind schnell. Gerade als sie sich eingewöhnt hat, heißt es erneut umziehen. Für den Vater gibt es in der Schweiz keine Arbeit, und in Paris kann er für eine jüdische Exilzeitung schreiben. In einer kleinen Mansarde bezieht die Familie Quartier, und Anna muss in einer ganz neuen Sprache wieder von vorn anfangen. Immer enger werden die Räume, in denen die Familie lebt, während sich die Lage in Deutschland weiter zuspitzt und Anna klar wird, dass es keine Rückkehr in die Heimat geben wird.
Stets auf Augenhöhe zu ihrer Protagonistin zeigt Caroline Link, welche enorme Anpassungsfähigkeit ein Kind im Exil entwickeln muss. In Annas kindliche Unbekümmertheit sickern die Sorgen und Nöte stetig ein, ohne dass sie der Lebensmut und das Vertrauen in die Eltern verlässt. Sie hat eben jene Gabe, sich in unsicheren Zeiten an den kleinen Momenten des Glücks festzuhalten.
Wie schon in ihrem Debüt „Jenseits der Stille“(1996) und zuletzt in „Der Junge muss an die frische Luft“(2018) zeigt Link auch hier ihr gutes Gespür für Kinderdarsteller. Die junge Riva Krymalowski entwickelt ein beträchtliches Leinwand-Charisma, trägt den Film über weite Strecken allein auf ihren Schultern und macht die Ängste ihrer Figur ebenso sichtbar wie deren unbändige Lebenslust. Einzig die deutlich überdosierte Musik navigiert dieses einfühlsame Porträt einer Familie im Exil gelegentlich in allzu sentimentale Gefilde.