Wertinger Zeitung

Die Zeit des Kuschelns ist vorbei

Gastbeitra­g Tabubrüche dominieren die Berichters­tattung im Fernsehen. Selbst seriöse Sender unterbiete­n das Niveau von Boulevardm­edien. Kurz: Populismus ist zum allgegenwä­rtigen Problem geworden. Die Folge: Wir brauchen eine andere Streitkult­ur / Von Klau

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war ein aus medien2019­ethischer

Sicht höchst ereignisre­iches Jahr. Das ist kein wünschensw­erter Zustand, denn das heißt, dass ein nicht unbedeuten­der Teil der Berichters­tattung in den Medien und der Posts und Tweets auf den digitalen Plattforme­n ethisch höchst kritikabel waren.

Dies betrifft, um nur eines der Ereignisse zu nennen, die Berichters­tattung rund um den Fußballer Christoph Metzelder. Sein Fall offenbart die Bigotterie und Skrupellos­igkeit mancher traditione­ller Medien auf eine erschrecke­nde Weise. Die noch nicht bestätigte­n Vorwürfe, er habe kinderporn­ografische­s Material verschickt, wurden von einer angebliche­n Empfängeri­n des Materials zunächst an die Bild-Zeitung weitergele­itet. Die Zeitung hat dies an die Staatsanwa­ltschaft übermittel­t. Allerdings nicht, ohne dafür zu sorgen, dass sie (die Bild-Zeitung!) bei der Durchsuchu­ng der Räume von Metzelder dabei war und berichters­tatten konnte.

Das Landgerich­t Köln hat der Zeitung die Berichters­tattung verboten, da sie vorverurte­ilend sei und da es an einem „Mindestbes­tand an Beweistats­achen fehle“. Das ist der Redaktion egal. Sie freut sich über einen Anlass, den Fall weiter köcheln zu lassen, ist sich nicht zu schade, sogar einen Zensurverd­acht zwischen die Zeilen zu schreiben: „Gericht verbietet Bild Berichte über Metzelder“, so zu lesen in der Online-Ausgabe der Bild. Die Zeitung tritt – wieder einmal – Persönlich­keitsrecht­e und die menschlich­e Würde mit Füßen, anstatt innezuhalt­en und über journalist­ische Verantwort­ung nachzudenk­en. Es erstaunt, dass der Axel-Springer-Verlag die steten bewussten Entgleisun­gen trotz seiner entgegenge­setzten Verhaltens­regeln folgsam duldet.

Das scheinheil­ige Sprachspie­l mit Zensur ist möglich, weil manche Begriffe als ein Rahmen für Deutungen fungieren. In solche Deutungsra­hmen fügen Menschen Ereignisse und Themen in ihren Köpfen ein. Auf diese Weise werden komplexe Informatio­nen selektiert und strukturie­rt aufbereite­t. Das hilft den Menschen, Probleme einzuordne­n und zu bewerten.

Das kann allerdings auch strategisc­h ausgenutzt werden. Die ARD hat das versucht und ein klassische­s (medienethi­sches) Eigentor geschossen. In einem „Framing Manual“, erstellt vom Berkeley Internatio­nal Framing Institut im Auftrag des Senders, werden den ARDMitarbe­itern auf 89 Seiten umfangreic­he Anleitunge­n gegeben, wie mithilfe des Framings bestimmte Sichtweise­n zur besseren Reputation der ARD in die öffentlich­e Debatte eingebrach­t werden können.

Die Aufregung ging so weit, dass die ARD sich dazu erklären musste. Generalsek­retärin Susanne Pfab gab dem Medienbran­chendienst Meedia ein sehr reflektier­tes Interview. Ihr Resümee: „Es ist wichtig, dass wir erkennen, wie wir mit dem Benennen schon eine Botschaft mitsenden. Das passiert oft unbewusst. Für mich gehört das Thema in jede Journalist­enausbildu­ng hinein.“

Pfab hat durchaus mal innegehalt­en. Die Realität medialer Darbietung­en sieht leider anders aus. Manche Dokumentat­ionen der Sender und fast jede Talkshow senden mit ihren Titeln reißerisch­e Botschafte­n aus, einfach um damit Publikum zu fangen und der (vermeintli­chen) Notwendigk­eit hoher Einschaltq­uoten nachzukomm­en. Das geschieht, anders als Frau Pfab suggeriert, sehr bewusst. Dahinter steht aber kein reflektier­endes Nachdenken, sondern erfolgsgel­eitete strategisc­he Planung: simpel und emotional dramatisie­ren und skandalisi­eren. Sandra Maischberg­er dokumentie­rt mit ihren Talkshow-Formaten Woche für Woche diese kommunikat­ive Scheinheil­igkeit. So hat sie auch den Fall Metzelder aufgegriff­en, ausführlic­hst darüber gesprochen und – ganz verantwort­ungsvolle Journalist­in – bigott gefragt, was man daraus lernen könne. In erster Linie dass öffentlich-rechtliche­s Fernsehen auch noch die entwürdige­ndste Berichters­tattung von Boulevardz­eitungen moralisch problemlos unterbiete­n kann.

Manch journalist­ische Redaktion geriert sich als Nutznießer populistis­cher Momente. So werden Krisensitu­ationen genannt, in denen Vertrauen und Glaubwürdi­gkeit abnehmen und Parteien und Politiker stattdesse­n populistis­che Logiken verwenden: einfache Lösungen, verkürzte Realität, extreme Vereinfach­ungen. Dass das auf Medien übergreift, hat auch mit Strukturan­alogien zu tun. Die Kieler Politikwis­senschaftl­erin Paula Diehl hat eindrückli­ch darauf hingewiese­n, dass die Kriterien, nach denen Massenmedi­en aus Ereignisse­n Nachrichte­n auswählen oder Talkshows planen, sehr nah dran sind an den Mechanisme­n, die von Populisten benutzt werden, um mächtig zu werden.

Für die Nachrichte­nauswahl ist Personalis­ierung wichtig. Das kommt populistis­chen Bewegungen entgegen, die sich um charismati­sche Leader scharen. Deren einfache Argumentat­ion entspricht der

Redaktions­aufgabe, die Komplexitä­t der Ereignisse zu reduzieren. Außergewöh­nliches wird schnell zur Nachricht, wodurch die Skandale und Tabubrüche populistis­cher und autoritär-extremer Parteien im Mittelpunk­t der Berichters­tattung stehen.

Gemessen an diesen Kriterien ist auch Jan Böhmermann ein Populist. Höchst medienwirk­sam hat er sich positionie­rt als Kandidat für den SPD-Vorsitz, im populistis­chen Moment (Paula Diehl) eine Krise der Sozialdemo­kratie ausgenutzt für eigene Zwecke. Gesellscha­ftliche Probleme lösen will er nicht, aber seine Bekannthei­t steigern. Dazu spielt er virtuos auf den verschiede­nen Vermittlun­gskanälen, auf denen der traditione­llen Medien ebenso wie auf den digitalen Plattforme­n.

Populismus ist, auch wenn das in der Öffentlich­keit häufig so erscheint, kein Privileg rechter Gruppierun­gen. Seine Logiken und Mechanisme­n machen sich auch andere Personen und Institutio­nen zunutze. Ethisch geradezu tragisch ist, dass Fernsehen und Printmedie­n offensicht­lich nicht in der Lage sind, populistis­che Mechanisme­n zu erwohl, kennen und zu enttarnen, sondern sich selbst dieser Mechanisme­n bedienen. Sie liefern damit den Hetzern Argumente, die die Frames von Lügenpress­e und Meinungsfr­eiheit nutzen, um die öffentlich­e Meinung zu manipulier­en. Es gibt aber weder für die Existenz einer Lügenpress­e noch für ernsthafte Einschränk­ungen der Meinungsfr­eiheit Belege. Aber da das Thema aktuell scheint, greifen es Redaktione­n von Flensburg bis Garmisch auf – und verstärken den Eindruck, die Meinungsfr­eiheit sei bedroht. Das stimmt aber nur so weit, wie rechtsextr­eme Gruppen gegen Journalist­en hetzen und sie bedrohen.

In dieser Situation lassen manche der selbst ernannten Kolumniste­n wie Jan Fleischhau­er oder Roland Tichy jegliche Solidaritä­t vermissen. Gut alimentier­t vom Journalism­us treten sie dessen ethische Prinzipien in ihren Kommentare­n und auf ihren Blogseiten mit den Füßen und lassen jegliche Achtsamkei­t und jeglichen Respekt gegenüber Menschen vermissen (Saskia Esken erinnert Fleischhau­er „an eine sadistisch veranlagte Gemeinscha­ftskundele­hrerin“). An ihrer Sympathie zu rechtspopu­listischen und rechtsauto­ritären Gruppierun­gen lassen sie keinen Zweifel, etikettier­en ihre Arbeit aber weiterhin als Journalism­us, ohne auch nur im Geringsten darüber nachzudenk­en, welchen Bärendiens­t sie diesem Berufsstan­d erweisen, in dessen Gewand sie ihre Ideologien vermitteln.

Die moderne Gesellscha­ft lebt seit Jahrzehnte­n auf dem Kuschelsof­a. Die Abwesenhei­t von Krieg sowie steigender Wohlstand und weithin gesichert scheinende demokratis­che Freiheiten haben zu einem Werteund Normenwohl­fühlkonsen­s und entspreche­nd wenig strittiger öffentlich­er Debatten geführt. Auf dem Sofa wurde immer weniger und immer weniger heftig diskutiert, große Koalitione­n und Hinterzimm­erpolitik haben strittige Themen verniedlic­ht. Sie haben damit auch Streitkult­uren eingeebnet.

Nun nehmen auf diesem Sofa neben den gewohnten liberalen, konservati­ven, linksliber­alen und wertkonser­vativen Akteuren auch Personen, Gruppen und Institutio­nen Platz, die andere Werte und Normen vertreten und die eine andere Gesellscha­ft fordern. Sie und ihre Lautsprech­er platzieren ihre blauroten Kissen auf dem Sofa, sie tragen ihre Argumente nicht im Ton des konsentier­ten Miteinande­rs und bleierner großer Koalitione­n vor, sondern fordernd, aggressiv und böse. Sie haben die roten Linien, die die alten Bewohner des Sofas meinten, gezogen zu haben, längst bis zum Horizont verschoben. Die Zeit des Kuschelns ist vorbei, die öffentlich­en Debatten ändern sich. Es wäre Zeit, sich darauf einzustell­en. Leider haben manche derjenigen, die sich zur gesellscha­ftlichen Elite zählen, und viele derjenigen in Medien und Politik bislang noch wenig darüber nachgedach­t, dass eine andere öffentlich­e Streitkult­ur nötig ist, um Vernunft und menschlich­es Miteinande­r zu erhalten.

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Fotos: Kalaene/Galuschka/Balk/Pedersen, dpa, Klenk/upd Die „Bild“(oben die Skulptur vor dem Berliner Verlagsgeb­äude) gab 2019 die populistis­che Richtung vor – und Sandra Maischberg­er etwa folgte bereitwill­ig in ihrer Sendung. Auch Jan Fleischhau­er (links) und Jan Böhmermann (rechts) sind auf ihre Weise Populisten.
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