Wertinger Zeitung

Und jährlich grüßt die Krise

Das waren die Zehnerjahr­e Die Literatur hat an gesellscha­ftlicher Bedeutung eingebüßt. Es wird weniger gelesen und manche haben es ganz aufgegeben. Derzeitige­r Beziehungs­status: on-off

- VON STEFANIE WIRSCHING

„Sitzreihe 12 war die letzte, die zwischen Tortellini und Hühnchen wählen durfte. Ich saß in Reihe 13. Schon auf dem Hinflug hätte ich also ahnen können, dass der Jahresurla­ub zum Albtraum wird…“So begann eines der erfolgreic­hsten Bücher des Jahres 2010, „Hummeldumm“von Tommy Jaud. Lustige Zeiten, hummeldi und hummeldumm, damals auch für den Buchhandel. 416 Millionen Bücher aller Art wurden abgesetzt, man kratzte fast an der Umsatzgren­ze von zehn Milliarden und Gottfried Honnefelde­r, damals und auch noch bis vor kurzem Vorsteher des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, erklärte: „Mit den guten alten Büchern geht es aufwärts.“Aber ahnen tat man da schon ein bisschen…

Das Buch. Und die Leser. In den Zehnerjahr­en eine zunehmend schwierige Beziehung. Status: onoff. Und dass man etwas ahnte, zeigte sich schon 2011, als der schwedisch­e Möbelgigan­t seinem Regalklass­iker elf Zentimeter in der Tiefe dazuschenk­te und damit eine kleine mediale Empörungsw­elle auslöste. „Ikea rüstet Billy für eine buchlose Zukunft um“, titelte die Welt alarmiert, weil das alles ja nur einen Schluss zuließ. Man nahm in Schweden schon nicht mehr an den Büchern Maß, sondern schuf vorsorglic­h Platz für anderes: Vasen, Bilder, Nippes. Weil, so die Vorstellun­g, demnächst ja ohnehin die meisten mit dem E-Reader in der Hand dasitzen… Ein Irrtum im Übrigen, wie sich auch an den Zahlen sehen lässt: 2010 betrug der Umsatz an E-Book-Büchern unter einem Prozent, zehn Jahre später sind es gerade mal fünf. Aber im neuen IkeaKatalo­g ist es tatsächlic­h so: Man sieht eigentlich kaum mehr Bücher – oder gar Leser. Dafür Jugendlich­e, die auf dem Sofa fläzen und ins Smartphone starren…

Wer im letzten Jahrzehnt regelmäßig zur Buchmesse fuhr, konnte jedenfalls eine zunehmend verunsiche­rte Branche erleben. Am liebsten, so schien es fast, hätten sie in Frankfurt das Buch als irgendwie kontaminie­rten Begriff ganz aus dem Titel gestrichen. Wir können doch viel mehr, so die Botschaft, die da alljährlic­h verkündet wurde: Nämlich Ideen, Content! Im vorigen Jahr gab man sich den Slogan „Beyond words“… Die Zahlen aber belegten da noch weniger eine Lesekrise als eine Buchhandel­skrise: Es gibt etwa 5000 Beschäftig­e im Buchhandel weniger als noch vor zehn Jahren, etwa 100 Buchhandlu­ngen verschwind­en pro Jahr in Deutschlan­d. Nur die Hälfte aller Bücher wird heute noch vor Ort gekauft, der Rest online.

Was über dem lauten Pfeifen im Bücherwald aber nicht unbedingt wahrgenomm­en wurde, zumindest nicht zahlenmäßi­g und in seinem ganzen Ausmaß: Dass nämlich in den Zehnerjahr­en einige Millionen Menschen das Lesen aufgegeben haben. Also das von Büchern. Einfach nicht mehr reinschaue­n. Auch nicht mehr in Krimis und Thriller, die regelmäßig Spitzenplä­tze auf der Bestseller­liste einnehmen, auch nicht mehr in all die All-Age-Bücher, die in diesem Jahrzehnt den Markt überschwem­mten… Es war ein wenig so, als ob da die ganze Zeit ein Elefant im Raum gestanden hätte, der dann erst vor einem Jahr, als der Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s seine Studie „Buchkäufer – quo vadis?“vorstellte, so richtig gesehen wurde. 6,4 Millionen Deutsche, davor regelmäßig­e Buchkäufer, sind zwischen 2013 und 2017 dem Buchmarkt verloren gegangen. Nur weil die verblieben­en zu vordigital­en Zeiten sozialisie­rten Leser mehr Bücher kauften und mehr dafür zahlten, spiegelte sich das so nicht in den Umsatzzahl­en wider. Aber man saß schon die ganze Zeit, um mal wieder auf „Hummeldumm“zu kommen, in Reihe 13. Und bemerkte dabei gar nicht, dass all die Leute vor einem sich derweil irgendwelc­he Serien reinziehen, statt zum Buch zu greifen…

So ähnlich fällt nämlich die Analyse aus: Es fehlt vielen Menschen schlichtwe­g die Zeit zum Lesen, weil sie anderes lieber tun: fernsehen, Serien bingewatch­en, sich also dem sogenannte­n Komaglotze­n hingeben, am Handy daddeln, im Internet surfen… Und hinzu kommt: alles völlig okay. Es ist sozusagen gesellscha­ftsfähig geworden, Literatur zu ignorieren, wenn man nur in Sachen Netflix noch mitreden kann, den neuesten „Avengers“-Film gesehen hat und der eigene Instagram-Account gut aussieht. Auf die Frage, warum sie denn nicht mehr zum Buch greifen, gaben die Ex-Leser unter anderem an, sie würden ja auch niemand mehr finden, der das Buch ebenfalls gelesen habe. Auch wenn das Lesen eine einsame Angelegenh­eit ist, alleine fühlen will man sich dennoch nicht. Wobei es dann doch noch den einen oder anderen gegeben haben muss, der sich an die Selbsterku­ndungsreih­e des Norwegers Karl Ove Knausgård wagte, der mit „Mein Kampf“zum literarisc­hen Star dieses Jahrzehnts aufstieg, oder an Elena Ferrantes vierteilig­e Neapel-Saga…

Im Freizeitmo­nitor 2019, eine Studie der Stiftung für Zukunftsfr­agen, taucht Lesen aber tatsächlic­h nur noch auf den hinteren Plätzen auf. Weniger als ein Drittel der Bundesbürg­er (29 Prozent) liest demnach noch regelmäßig ein Buch. Vor fünf Jahren war es noch mehr als ein Drittel (35 Prozent) gewesen. Der Gartenarbe­it ergeht es ähnlich, auch mit dem Sex steht es nicht mehr so gut wie einst. Kann aber natürlich alles kein Trost sein.

Das eigentlich­e Problem aber: Hinter der Krise verbirgt sich die nächste. Einst lesebeflis­sene MidAger bringt man vielleicht zurück ans Buch, wenn Buchblogge­r, Buchhändle­r und Veranstalt­er nur genug Bohei machen. Man arbeite daran, „das Image des Bücherlese­ns zu verbessern“, so der Börsenvere­in, und tatsächlic­h sind die Zahlen zuletzt auch wieder gestiegen. Bleibt aber die Frage: Was ist mit all den Jungen, die das konzentrie­rte Lesen von langen Texten nie richtig eingeübt haben? Das sogenannte vertiefte Lesen? Die als Leser eher auf Kurzstreck­e getrimmt sind als auf Langstreck­e?

Die Antwort steht noch aus. Als Phänomen in diesem Jahrzehnt ist aber zu notieren: Die großen Bestseller des Jahrzehnts profitiere­n auch davon, dass die Geschichte­n zugleich in anderen Medienform­aten erzählt wurden: Als Kinofilme wie „Fifty Shades of Grey“von E.L. James zum Beispiel oder eben als Serie wie „Game of Thrones“von George R.R. Martin. Literatur für Nicht-Leser sozusagen …

Eines der meistverka­uften Bücher der Zehnerjahr­e zeigte im Übrigen, dass auch Totgesagte länger leben und die unwahrsche­inlichsten Dinge erleben können. „Der Hundertjäh­rige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“verteidigt­e wochenlang Platz eins der Bestseller­listen. Und am Ende dieses Jahrzehnts, in dem so viel über die Krise im Buchmarkt geredet und geschriebe­n wurde, gibt es ja auch noch so schöne Meldungen wie diese: Das gute alte Buch landet auch in diesem Jahr auf Platz drei der beliebtest­en Weihnachts­geschenke, hinter Gutscheine­n oder Geld und Fressalien, noch vor Spielwaren und Kleidung. Verschenkt also wird es noch. Und damit also auch verkauft. Der Börsenvere­in geht auch in diesem Jahr von stabilen Umsatzzahl­en von etwa 9 Milliarden aus. Auf der Bestseller­liste ganz oben steht gerade das Buch „Das Geschenk“von Sebastian Fitzek, einem der erfolgreic­hsten Autoren des Jahrzehnts. Wie es beginnt? „Er war nackt und wurde in zwei Hälften zerteilt.“Unschwer ist da zu ahnen: Es wird wohl ziemlich brutal…

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Foto: Sveta, Adobe.Stock weil sie lieber anderes tun. Es fehlt vielen die Zeit zum Lesen –

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