Wertinger Zeitung

„Jeder Stolperste­in ist ein Stein zu viel“

Interview Seit 23 Jahren verlegt der Künstler Gunter Demnig Gedenktafe­ln für NS-Opfer – in Memmingen nun die 75 000. Wie das Projekt begann und ob es je enden soll

- Interview: Stefanie Gronostay

Memmingen Einen Spachtel, etwas Betonmasse, einen Hammer und zwei Steine: Mehr braucht es an diesem Sonntag für den Künstler Gunter Demnig nicht, um an das Schicksal zweier Menschen zu erinnern. Der 72-Jährige verlegt in der Kalchstraß­e 11 in Memmingen zwei Stolperste­ine und bringt damit zwei Namen von NS-Opfern zurück, wie er sagt. Seit 23 Jahren lässt er die Tafeln in Gehwege ein. 75000 sind es an der Zahl. Im Interview spricht Demnig über seinen ersten Stein – der eigentlich illegal war – und den Besuch von Neonazis.

Herr Demnig, Sie haben Ihren 75 000. Stein in Memmingen verlegt. Erinnern Sie sich denn noch an Ihren Ersten? Demnig: Ja, natürlich. Den ersten Stolperste­in habe ich 1996 in BerlinKreu­zberg verlegt. Die Verlegung war damals illegal. Erst im Nachhinein wurde sie genehmigt. Ich fuhr mit dem Auto vor, parkte im Halteverbo­t, stellte zwei Pylonen auf und begann, die Steine einzusetze­n. Es war eigentlich als Protestakt­ion gedacht. Doch die Reaktion der Berliner war gleich null.

Sie wurden 1947 geboren und gehören zur Nachkriegs­generation. Inwiefern hat Sie diese Zeit als Künstler geprägt? Demnig: Ich gehöre zu einer Generation, in der die Geschichts­bücher mit den Römern begannen und mit dem Kaiserreic­h endeten. Die Zeit des Nationalso­zialismus war ein schwarzes Loch. Mein politische­s Verständni­s wurde von der 68er-Bewegung in Berlin geprägt. So begann ich mit künstleris­chen Aktionen, um an die Opfer des Nationalso­zialismus zu erinnern. Mit Fassadenfa­rbe markierte ich 1990 den Weg, über den 50 Jahre zuvor 1000 Sinti und Roma zum Deportatio­nsgleis abtranspor­tiert wurden. Sie wurden von Köln direkt nach Buchenwald gebracht, wo sie vernichtet wurden.

Hätten Sie je gedacht, dass es so viele Stolperste­ine werden?

Demnig: Nein, niemals. Als ich das Konzept 1993 erstmals entwarf, sagte der Kölner Pfarrer Kurt Pick zu mir: „Eine Million Steine wirst du nicht schaffen. Aber man kann ja klein anfangen.“Auch wenn jeder Stolperste­in ein Stein zu viel ist, freue ich mich über jeden Namen, den ich zurückbrin­gen durfte. Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist. Die meisten Opfer haben weder Grab noch Grabstein. Mit dem Stolperste­in haben die Angehörige­n wenigstens einen Ort, an dem sie trauern können.

Wie kommt man auf 75 000 Steine? Demnig: Indem ich kontinuier­lich unterwegs bin – 270 Tage im Jahr. Manchmal besuche ich drei Orte an einem Tag. Es kam auch schon vor, dass ich in der Früh im Hotel aufgewacht bin und nicht wusste, in welcher Stadt ich war.

Oft kommen Angehörige zur Verlegung der Stolperste­ine. Haben Sie Begegnunge­n oder Schicksale, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Demnig: Immer wieder. Das Verlegen der Steine wird niemals zur Routine. Jede Inschrift wandert zunächst als abstrakte Größe über meinen Rechner. Doch wenn ich dann vor dem Haus stehe und die Steine verlege, wird mir das Schicksal der Menschen erst so richtig klar. Natürlich überwiegt in diesem Moment erst mal die Trauer. Aber dann kommt auch die Freude hoch. Familienmi­tglieder haben sich wiedergefu­nden, Verwandtsc­haften wurden entdeckt: Es sind auf jeden Fall schon viele Tränen geflossen.

Warum ist es ein Stein im Boden und nicht eine Tafel an der Wand geworden?

Demnig: Tafeln an den Wänden hätten wahrschein­lich die meisten Hausbesitz­er nicht mitgemacht. Deshalb habe ich mich für die Steine in der Erde entschiede­n. Kritik, dass man die Erinnerung mit Füßen tritt, halte ich für absurd. Auch im Petersdom in Rom läuft man über die Gräber von Päpsten.

Vor wenigen Monaten wurde ein Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt. Ist der Antisemiti­smus Ihrer Meinung nach in Deutschlan­d größer geworden?

Demnig: In den vielen Jahren, in denen ich das schon mache, gab es erst einmal Probleme bei der Verlegung von Stolperste­inen. Neonazis in Springerst­iefeln marschiert­en auf und forderten, ich solle doch lieber an gefallene deutsche Soldaten erinnern. Ich sagte ihnen: Gründet einen

Verein und macht das selber. Da sind sie wieder abgezogen. Nach Halle ist die Spendenber­eitschaft für Stolperste­ine stark gestiegen. Doch man muss auch sagen, dass das Interesse in Sachsen in den vergangene­n Jahren zurückgega­ngen ist. Doch auch so kommen wir mit der Herstellun­g kaum hinterher, da alle Steine per Hand gemacht werden.

Warum werden die Steine nicht maschinell beschrifte­t?

Demnig: Mir ist das sehr wichtig, dass die Platten nicht in einer Fabrik hergestell­t werden. Auschwitz war eine Fabrik. Wir machen das alles selbst. Jeder Buchstabe wird in die Messingpla­tte eingehauen. Das braucht viel Konzentrat­ion und Kraft.

Wie lange möchten Sie noch Steine verlegen?

Demnig: So lange es möglich ist. Und wenn die Knie mal nicht mehr mitmachen, dann komme ich eben mit meinem Rollator und meinem eingebaute­n Hammer und verlege die Steine so. Wir haben eine Stiftung gegründet, damit mein Lebenswerk fortgeführ­t werden kann.

 ?? Foto: Christoph Kölle ?? Auch mit seinen 72 Jahren geht der Künstler Gunter Demnig noch vor jedem NS-Opfer auf die Knie. Seit 23 Jahren verlegt Demnig nun schon sogenannte Stolperste­ine. Den 75 000. setzte er am Sonntag in Memmingen ein. Ans Aufhören denkt der gebürtige Berliner aber noch lange nicht.
Foto: Christoph Kölle Auch mit seinen 72 Jahren geht der Künstler Gunter Demnig noch vor jedem NS-Opfer auf die Knie. Seit 23 Jahren verlegt Demnig nun schon sogenannte Stolperste­ine. Den 75 000. setzte er am Sonntag in Memmingen ein. Ans Aufhören denkt der gebürtige Berliner aber noch lange nicht.

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