Zum Zusehen verdammt
Skispringen Olympiasieger Andreas Wellinger ist nach seinem Kreuzbandriss bei der Tournee in ungewohnter Rolle
Oberstdorf Trocken, mit den Worten, „es lebt, passt also“, beantwortete Andreas Wellinger die Frage nach dem Zustand seines Knies. Ausreichend Zeit für Interviews hatte der 24-jährige Traunsteiner im Rahmen des Auftaktspringens der Vierschanzentournee in Oberstdorf allemal. Leider. Seit dem Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie bei einem Kader-Lehrgang in Hinzenbach im Juni ist Wellinger zum Zusehen verdammt. So auch in Oberstdorf, wo der passivste aller deutschen Adler der gefragteste Athlet überhaupt war.
„Es ist eine nicht immer schöne Rolle als Zuschauer, aber doch interessant, weil man es aus einer anderen Position, und damit relativ entspannt von der Seite beobachten kann“, beschrieb der Oberbayer seine ungewohnte Position. Mit Blick auf den aktuellen Stand der Reha ergänzte der 24-Jährige: „Ich habe jetzt sechseinhalb Monate hinter mir, eine mühsame Zeit, weil man sich alles neu erarbeiten muss. Nach einem Kreuzbandriss heißt es nicht nur Festplatte zurücksetzen, sondern auch alles neu bespielen.“Und doch habe er während der vergangenen Monate „nie daran gezweifelt, oder daran gedacht, hinzuschmeißen. Es fällt Dir am Anfang ein Hammer auf den Kopf, aber das muss man annehmen.“
Der Frohnatur unter den deutschen Adlern hilft dabei, dass ihn sein Praktikum bei Red Bull im Rahmen seines BWL-Studiums „ganz gut ablenkt. Ich schätze das sehr, das ist eine extrem spannende Erfahrung für mich – und der positive Effekt an der Pause“, sagte Wellinger. „Es ist gut, sich abzulenken, damit auf diesem langen Weg nicht die Decke auf den Kopf fällt.“Dabei ist der Olympiasieger von Pyeongchang bei Weitem nicht der einzige Skispringer, der dieses mühsame Programm dieser Tage durchlaufen muss.
Die Flut an Kreuzbandrissen liegt gerade 2019 wie ein Schatten auf der Sportart. Jüngstes Beispiel ist der norwegische Junioren-Weltmeister Thomas Aasen Markeng, wenige Monate nach seinem Teamkollegen Anders Fannemel, den dieses Schicksal im Sommer ereilte. Aus deutscher Sicht hat es zu Wellinger auch David Siegel sowie die Frauen Carina Vogt, Ramona Straub, Anna Rupprecht und Gianina Ernst erwischt. Inzwischen ist auch der DSV in die Diskussion um mögliche Regeländerungen eingestiegen. „In meinen Augen muss etwas passieren, die Entwicklung ist besorgniserregend. Ich stehe in Kontakt mit anderen Nationen. Noch bis 2010 hatten wir kaum Kreuzbandrisse“, sagte der Teammanager der deutschen Springer, Horst Hüttel, in Oberstdorf. Er wolle vor allem „Schuhe, Keile und Bindung“in den Fokus rücken. „Es haben sich beim Material ein paar Dinge verändert, die von einem Großteil der Szene unterschätzt worden sind“, sagte er bei der Auftaktpressekonferenz. Bis zum Ende der Saison müsse daher überlegt werden, welche Materialveränderungen „umsetzbar, also messbar“sind – dann, spätestens dann, will auch Andreas Wellinger wieder eingreifen. Und die Rolle des Zuschauers verlassen. „Klar, ich wäre lieber mit Ski da. Da bin ich schon nahe dran am Zustand von ,einigermaßen normal’, aber das Problem ist: Im Skispringen genügt eben nicht einigermaßen normal. Da gibt’s nur ganz oder gar nicht. Und diese Zeit brauche ich noch“, sagte Wellinger, der sich in der Audi Arena vor dutzenden Smartphones, Kameras und Diktiergeräten kaum retten konnte. „Ich versuche Dinge aus einer neuen Sichtweise zu lernen, die mir künftig helfen können. Dann, wenn ich wieder springe.“