Er arbeitet trotz seiner schweren Krankheit
Schicksal Thorwin Gotteswinter muss dreimal die Woche zur Dialyse. Das ist lebenswichtig für ihn. Aber er arbeitet trotzdem. Weil er es unbedingt möchte. Die Pro Seniore Residenz in Bissingen macht es ihm möglich
Bissingen/Nördlingen Es war an einem schönen Sommertag im August vor fünf Jahren. Gemeinsam mit seiner damaligen Freundin war Thorwin Gotteswinter gerade auf dem Weg ins Freibad. Als Proviant hatte er sich eine Schinkensemmel gekauft. Er sieht sich heute noch, wenn er davon erzählt, mit seiner Brotzeit in der Hand am Boden sitzen. „Ich habe für diese eine Semmel fast eine Dreiviertelstunde gebraucht, bis ich sie gegessen hatte“, schildert er. Es ging einfach nicht schneller runter. Das muss der Stress sein, dachte er damals. Nach dem Urlaub ist alles wieder gut. Ist es nicht. Es ist der letzte Sommertag, in dem er vermeintlich gesund ins Freibad geht.
Thorwin Gotteswinter sitzt an dem runden Tisch im Büro der Pro Seniore Residenz in Bissingen. In einer halben Stunde ist seine Schicht vorbei, dann macht er Feierabend. Vielleicht geht er noch in den Supermarkt nebenan oder trifft sich auf ein Bier mit Freunden. „Viel darf ich aber nicht trinken, das wäre schlecht. Also nicht wegen des Alkohols, sondern wegen der Menge“, sagt er und lacht auf. Eigentlich lacht der 39-Jährige ständig. Laut und aus vollem Herzen. „Wenn man nichts mehr zu lachen hat, dann wird es schwierig“, sagt der Mann, der eine lebensbedrohliche, nicht heilbare Krankheit hat.
Thorwin Gotteswinter braucht dringend eine neue Niere. In den nächsten Wochen wird er, so hofft er, endlich auf die Spenderliste gesetzt. Und dann muss er warten. Darauf, dass sein Leben wieder lebenswerter wird. „Nur ein wenig“, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin zufrieden. Ich kann in die Arbeit und zur Dialyse gehen und habe einen Tag, an dem ich mich erholen kann. Gesundheitlich bin ich gerade stabil. Ich finde mein Leben ganz gut. Aber klar: Ein anderes Leben wäre mir trotzdem lieber.“
Denn es bleibt im August 2014 nicht bei Appetitlosigkeit. Es kommen schwere, schmerzhafte Krämpfe in den Beinen dazu, der DonauRieser hat kaum noch Energie und bekommt bei der kleinsten Anstrengung keine Luft mehr. Selbst mit zwei Decken, Wärmeflasche und voll aufgedrehter Heizung friert er auf dem Sofa. Und auch die Arbeit im Bissinger Seniorenheim, die er so liebt, fällt ihm immer schwerer.
„Wenn ich einen Bewohner fertig hatte, musste ich mich hinsetzen“, schildert er. Die Diagnose: präterminale Niereninsuffizienz. Beide Nieren sind belagert mit Zysten. Die Organe bauen ab. Sehr schnell. Erblich bedingt. Auch sein älterer Bruder leidet unter dieser Krankheit. „Ich wusste, dass ich irgendwann ein Problem mit den Nieren kriegen werde. Aber ich dachte immer, dass ich bis 50 oder 60 meine Ruhe habe. Doch nicht jetzt, so jung und dann, wenn alles läuft. Das war ein Schlag ins Gesicht. Der Schock war groß“, erinnert sich der 39-jährige Altenpfleger.
Auch, weil er mit dieser Diagnose mitten aus dem Leben gerissen wird. Genau dann, wenn es endlich geregelt verläuft, und er seine berufliche Bestimmung gefunden hat.
Der Donau-Rieser hat jung seine Eltern verloren, ist als Waisenkind aufgewachsen und musste viele weitere, schlimmere Schicksalsschläge verkraften. Mit 18 schafft er trotzdem die Mittlere Reife und „dann war mein Leben zehn Jahre chaotisch“, sagt er und lächelt. Mit 29 entscheidet er sich, eine Ausbildung als Altenpflegefachkraft zu machen – in der Pro Seniore Residenz Bissingen. Ein Glücksfall, wie er immer wieder betont. „Ich arbeite sehr gerne hier und bin dankbar, dass ich jede Unterstützung bekomme. Das ist nicht selbstverständlich.“Er bleibt nach der Ausbildung in der Einrichtung und kümmert sich viele Jahre im Schichtmodell um die Seniorinnen und Senioren.
Auch nach der Diagnose vor fünf Jahren. Trotz Dialyse, ohne die er seither nicht mehr leben kann. Die ersten Monate führt er die Blutwäsche über einen Zugang über die Bauchfelldecke sogar alleine bei sich Zuhause durch. Fünf Mal am Tag 25 Minuten. Eine „Sitzung“, wie er es nennt, muss er während der Arbeitszeit in einem kleinen, separaten Zimmer im Seniorenheim machen – was ihm sofort ermöglicht wird, wie er sagt. „Meine Kollegen haben in der Zeit meine Arbeit gemacht, alle haben das akzeptiert und mitgetragen. Das rechne ich ihnen hoch an“, sagt er. So kann Gotteswinter trotz Dialyse weiterarbeiten. Das ist ihm das Wichtigste. Lange geht das gut. Im Mai 2018 dann nicht mehr. Diagnose: Bauchfellentzündung. Der Beginn einer langen Odyssee voller Schmerzen, Zweifel und Angst. „Mir war immer klar, dass ich so lange die Dialyse brauche, bis ich eine neue Niere bekomme. Ohne, bin ich tot. Aber ich wollte dafür nicht jeden Tag in ein Krankenhaus“, sagt der Altenpfleger.
Unzählige Eingriffe muss er über Monate über sich ergehen lassen, Zugänge für die Dialyse werden an Hals, Brust und Bauch immer und immer wieder neu gelegt. Sein gesundheitlicher Zustand ist teils mehr als kritisch. In sieben Wochen verliert er über 20 Kilogramm. Die Schmerzen sind an manchen Tagen
Die Krankheit ist unheilbar
Die Lust am Leben verloren
unerträglich. „Es gab schon Momente, in denen ich mit den Nerven komplett durch war. Das geht irgendwann an die Psyche und kurzzeitig hat man keine Lust mehr zu leben“, sagt er und lacht gleich darauf laut auf. Aber Thorwin Gotteswinter hat Lust. Sehr, wie er sagt. Und er will arbeiten.
Die Verantwortlichen in der Pro Seniore Residenz in Bissingen haben es ihm möglich gemacht, wie Gotteswinter dankbar schildert. Zwischenzeitlich, als es ihm gar nicht gut geht, wird er in der Beschäftigungstherapie untergebracht, sodass die körperliche Arbeit wegfällt. „Aber ich wollte unbedingt wieder in die Pflege zurück. Es erfüllt mich, wenn ich die Situation von Menschen wesentlich verbessern kann“, sagt er.
Es klappt. Seit knapp einem Jahr arbeitet der 39-Jährige immer montags, mittwochs und freitags von 8.30 bis 16 Uhr. Dienstag, Donnerstag und Samstag ist er jeweils einen halben Tag zur Dialyse im Nördlinger Krankenhaus. Sonntag ist Erholungstag. „Das ist für mich genau die richtige Balance. Ich will keine Rente oder Ähnliches. Ich will arbeiten. Ich bin ja nicht aus Zucker.“
Trotz all des Optimismus, den Gotteswinter nicht nur ausstrahlt, sondern auch überträgt – er hat Wünsche. Dass es irgendwann eine neue Niere für ihn gibt. Dass er nicht mehr zur Dialyse muss. Dass er wieder voll arbeiten kann. Der Altenpfleger fasst es so zusammen: „Ich wünsche mir Freiheit.“