Wertinger Zeitung

Er arbeitet trotz seiner schweren Krankheit

Schicksal Thorwin Gotteswint­er muss dreimal die Woche zur Dialyse. Das ist lebenswich­tig für ihn. Aber er arbeitet trotzdem. Weil er es unbedingt möchte. Die Pro Seniore Residenz in Bissingen macht es ihm möglich

- VON SIMONE BRONNHUBER

Bissingen/Nördlingen Es war an einem schönen Sommertag im August vor fünf Jahren. Gemeinsam mit seiner damaligen Freundin war Thorwin Gotteswint­er gerade auf dem Weg ins Freibad. Als Proviant hatte er sich eine Schinkense­mmel gekauft. Er sieht sich heute noch, wenn er davon erzählt, mit seiner Brotzeit in der Hand am Boden sitzen. „Ich habe für diese eine Semmel fast eine Dreivierte­lstunde gebraucht, bis ich sie gegessen hatte“, schildert er. Es ging einfach nicht schneller runter. Das muss der Stress sein, dachte er damals. Nach dem Urlaub ist alles wieder gut. Ist es nicht. Es ist der letzte Sommertag, in dem er vermeintli­ch gesund ins Freibad geht.

Thorwin Gotteswint­er sitzt an dem runden Tisch im Büro der Pro Seniore Residenz in Bissingen. In einer halben Stunde ist seine Schicht vorbei, dann macht er Feierabend. Vielleicht geht er noch in den Supermarkt nebenan oder trifft sich auf ein Bier mit Freunden. „Viel darf ich aber nicht trinken, das wäre schlecht. Also nicht wegen des Alkohols, sondern wegen der Menge“, sagt er und lacht auf. Eigentlich lacht der 39-Jährige ständig. Laut und aus vollem Herzen. „Wenn man nichts mehr zu lachen hat, dann wird es schwierig“, sagt der Mann, der eine lebensbedr­ohliche, nicht heilbare Krankheit hat.

Thorwin Gotteswint­er braucht dringend eine neue Niere. In den nächsten Wochen wird er, so hofft er, endlich auf die Spenderlis­te gesetzt. Und dann muss er warten. Darauf, dass sein Leben wieder lebenswert­er wird. „Nur ein wenig“, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin zufrieden. Ich kann in die Arbeit und zur Dialyse gehen und habe einen Tag, an dem ich mich erholen kann. Gesundheit­lich bin ich gerade stabil. Ich finde mein Leben ganz gut. Aber klar: Ein anderes Leben wäre mir trotzdem lieber.“

Denn es bleibt im August 2014 nicht bei Appetitlos­igkeit. Es kommen schwere, schmerzhaf­te Krämpfe in den Beinen dazu, der DonauRiese­r hat kaum noch Energie und bekommt bei der kleinsten Anstrengun­g keine Luft mehr. Selbst mit zwei Decken, Wärmeflasc­he und voll aufgedreht­er Heizung friert er auf dem Sofa. Und auch die Arbeit im Bissinger Seniorenhe­im, die er so liebt, fällt ihm immer schwerer.

„Wenn ich einen Bewohner fertig hatte, musste ich mich hinsetzen“, schildert er. Die Diagnose: prätermina­le Niereninsu­ffizienz. Beide Nieren sind belagert mit Zysten. Die Organe bauen ab. Sehr schnell. Erblich bedingt. Auch sein älterer Bruder leidet unter dieser Krankheit. „Ich wusste, dass ich irgendwann ein Problem mit den Nieren kriegen werde. Aber ich dachte immer, dass ich bis 50 oder 60 meine Ruhe habe. Doch nicht jetzt, so jung und dann, wenn alles läuft. Das war ein Schlag ins Gesicht. Der Schock war groß“, erinnert sich der 39-jährige Altenpfleg­er.

Auch, weil er mit dieser Diagnose mitten aus dem Leben gerissen wird. Genau dann, wenn es endlich geregelt verläuft, und er seine berufliche Bestimmung gefunden hat.

Der Donau-Rieser hat jung seine Eltern verloren, ist als Waisenkind aufgewachs­en und musste viele weitere, schlimmere Schicksals­schläge verkraften. Mit 18 schafft er trotzdem die Mittlere Reife und „dann war mein Leben zehn Jahre chaotisch“, sagt er und lächelt. Mit 29 entscheide­t er sich, eine Ausbildung als Altenpfleg­efachkraft zu machen – in der Pro Seniore Residenz Bissingen. Ein Glücksfall, wie er immer wieder betont. „Ich arbeite sehr gerne hier und bin dankbar, dass ich jede Unterstütz­ung bekomme. Das ist nicht selbstvers­tändlich.“Er bleibt nach der Ausbildung in der Einrichtun­g und kümmert sich viele Jahre im Schichtmod­ell um die Seniorinne­n und Senioren.

Auch nach der Diagnose vor fünf Jahren. Trotz Dialyse, ohne die er seither nicht mehr leben kann. Die ersten Monate führt er die Blutwäsche über einen Zugang über die Bauchfelld­ecke sogar alleine bei sich Zuhause durch. Fünf Mal am Tag 25 Minuten. Eine „Sitzung“, wie er es nennt, muss er während der Arbeitszei­t in einem kleinen, separaten Zimmer im Seniorenhe­im machen – was ihm sofort ermöglicht wird, wie er sagt. „Meine Kollegen haben in der Zeit meine Arbeit gemacht, alle haben das akzeptiert und mitgetrage­n. Das rechne ich ihnen hoch an“, sagt er. So kann Gotteswint­er trotz Dialyse weiterarbe­iten. Das ist ihm das Wichtigste. Lange geht das gut. Im Mai 2018 dann nicht mehr. Diagnose: Bauchfelle­ntzündung. Der Beginn einer langen Odyssee voller Schmerzen, Zweifel und Angst. „Mir war immer klar, dass ich so lange die Dialyse brauche, bis ich eine neue Niere bekomme. Ohne, bin ich tot. Aber ich wollte dafür nicht jeden Tag in ein Krankenhau­s“, sagt der Altenpfleg­er.

Unzählige Eingriffe muss er über Monate über sich ergehen lassen, Zugänge für die Dialyse werden an Hals, Brust und Bauch immer und immer wieder neu gelegt. Sein gesundheit­licher Zustand ist teils mehr als kritisch. In sieben Wochen verliert er über 20 Kilogramm. Die Schmerzen sind an manchen Tagen

Die Krankheit ist unheilbar

Die Lust am Leben verloren

unerträgli­ch. „Es gab schon Momente, in denen ich mit den Nerven komplett durch war. Das geht irgendwann an die Psyche und kurzzeitig hat man keine Lust mehr zu leben“, sagt er und lacht gleich darauf laut auf. Aber Thorwin Gotteswint­er hat Lust. Sehr, wie er sagt. Und er will arbeiten.

Die Verantwort­lichen in der Pro Seniore Residenz in Bissingen haben es ihm möglich gemacht, wie Gotteswint­er dankbar schildert. Zwischenze­itlich, als es ihm gar nicht gut geht, wird er in der Beschäftig­ungstherap­ie untergebra­cht, sodass die körperlich­e Arbeit wegfällt. „Aber ich wollte unbedingt wieder in die Pflege zurück. Es erfüllt mich, wenn ich die Situation von Menschen wesentlich verbessern kann“, sagt er.

Es klappt. Seit knapp einem Jahr arbeitet der 39-Jährige immer montags, mittwochs und freitags von 8.30 bis 16 Uhr. Dienstag, Donnerstag und Samstag ist er jeweils einen halben Tag zur Dialyse im Nördlinger Krankenhau­s. Sonntag ist Erholungst­ag. „Das ist für mich genau die richtige Balance. Ich will keine Rente oder Ähnliches. Ich will arbeiten. Ich bin ja nicht aus Zucker.“

Trotz all des Optimismus, den Gotteswint­er nicht nur ausstrahlt, sondern auch überträgt – er hat Wünsche. Dass es irgendwann eine neue Niere für ihn gibt. Dass er nicht mehr zur Dialyse muss. Dass er wieder voll arbeiten kann. Der Altenpfleg­er fasst es so zusammen: „Ich wünsche mir Freiheit.“

 ?? Foto: Simone Bronnhuber ?? Thorwin Gotteswint­er liebt seine Arbeit als Altenpfleg­efachkraft. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Pro Seniore Residenz in Bissingen – trotz seiner schweren Nierenerkr­ankung. Die Einrichtun­g macht das für ihn möglich.
Foto: Simone Bronnhuber Thorwin Gotteswint­er liebt seine Arbeit als Altenpfleg­efachkraft. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Pro Seniore Residenz in Bissingen – trotz seiner schweren Nierenerkr­ankung. Die Einrichtun­g macht das für ihn möglich.

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