Auf dem Friedhof der Telefonzellen
Technikgeschichte Wer nutzt denn heute noch öffentliche Fernsprecher? Allenfalls Nostalgiker. Und so werden sie in einem Wald in Brandenburg gesammelt. Endstation ist für die Häuschen dort aber nicht. Für ein paar hundert Euro kann man eines kaufen. Doch
Michendorf Telefonzellen sind hoffnungslos von gestern, Außentoiletten erst recht. Und doch wünscht sich der kantige Mittfünfziger, der mit seinem Auto einen mächtigen Pferdeanhänger durch die brandenburgische Provinz zieht, eine Kombination aus beidem: ein stilles Örtchen für den heimischen Garten, zwischen Himbeeren und Hortensien. Aber eben kein Häuschen aus Holz mit herzförmigem Fensterchen in der Tür. Nein, eine zum WC umgebaute Telefonzelle soll es sein, eine von den alten gelben.
Deshalb hat ihn sein Weg, der an diesem trüben Wintertag einige empfindliche Enttäuschungen bereithalten wird, nach Michendorf geführt. Dorthin, wo all die Fernsprechkabinen landen, die zu Tausenden aus deutschen Städten und Dörfern verschwinden. Weil fast jeder nur noch mit dem Handy telefoniert.
Überregional allenfalls durch eine Autobahnraststätte an der A10 bekannt, ist Michendorf bei Menschen, die sich auch nur im Entferntesten für Telefonhäuschen interessieren, ein Sehnsuchtsort. Die 13000-Einwohner-Gemeinde liegt nur gut 40 Kilometer von der deutschen Hauptstadt Berlin entfernt und wirkt doch wie aus der Zeit gefallen. Auf rumpeligem Kopfsteinpflaster geht es zwischen trist-grauen Häuschen aus DDR-Zeiten hindurch, dann schließt sich ein gesichtsloses Neubaugebiet an. Am Ende der Straße, bei der apricotfarben gestrichenen Villa des örtlichen Fahrlehrers, ist Michendorf auch schon wieder zu Ende.
Ein Betonplattenweg führt jetzt tief in einen Kiefernwald. Als die Hoffnung schon schwindet, dass da noch irgendwas außer Bäumen kommt, taucht hinter Stacheldraht ein Gebäude auf. Grau mit verblassten Magenta-Elementen, im Farbschema von Telefonzellen also. Das muss es sein.
Doch wer klingelt, dem dröhnt es aus der Gegensprechanlage nur genervt entgegen: „Keine Zellen hier. Nächstes Gelände.“
Tatsächlich, wenige hundert Meter weiter, liegt ein großer, mit H-förmigen Betonsteinen gepflasterter Platz, ebenfalls gut gesichert. Warntafeln am mit spitzen Stahlzacken bewehrten Tor sagen dem Besucher, dass er hier nicht zu fotografieren und eigentlich auch sonst nichts verloren hat. Ein stabil gebauter und entschlossen blickender Mitarbeiter in gelber Warnjacke eilt herbei und bekräftigt, was auf den Schildern steht.
Schon am Tor platzt der erste Traum des Kaufinteressenten. „Telefonzellen mitnehmen is’ nich’“, erfährt er. Dabei stehen sie hier zu Hunderten herum. An den meisten hat der Zahn der Zeit heftig genagt, viele sind von schmutzig grünem Moos bedeckt. Dazu palettenweise Ersatzteile: Böden, Seitenwände, Türen. Seit Jahren mustert die Telekom die Zellen aus, und alles, was nicht völlig schrottreif ist, landet in diesem Wald bei Michendorf.
Bringt eine Zelle weniger als 50 Euro Umsatz im Monat, wird sie abgebaut. Telekom-Pressesprecher Georg von Wagner sagt: „Der Kunde ist der Architekt des Telefonzellen-Netzes.“
Waren 1997 noch rund 167 000 Häuschen in Betrieb, sind es inzwischen bundesweit noch 17 000.
Seit 2013 können Privatleute ganz offiziell eine ausrangierte Kabine kaufen. Aufgearbeitet – also dampfgestrahlt, mit funktionierenden Türen und Beleuchtung, aber in der Regel mit mehr oder weniger starken Lackmängeln – kostet eine Zelle 450 Euro. Doch so einfach, wie es sich der Mann mit dem Pferdeanhänger vorgestellt hat, ist das eben nicht. Bestellt wird zentral über die Internetseite der Telekom. Ist der Kaufvertrag unterschrieben, dauert es noch Monate. Denn die Nachfrage ist hoch, die Männer in Michendorf kommen mit der Aufarbeitung kaum hinterher. Rund ein halbes Jahr beträgt die aktuelle Wartezeit. Ernüchtert schluckt der Interessent.
Um beim kurzen Rundgang übers Gelände, der ihm dann doch gewährt wird, gleich die nächste Enttäuschung zu erleben: Weit und breit steht da keine gelbe Kabine. Erhältlich ist nur noch ein Modell, das Tel-H 90, das gängigste Telefonhäuschen, in der Farbkombination Hellgrau, Dunkelgrau, Magenta. Der einzige mögliche Sonderwunsch: Wer seine persönliche Zelle etwa in einer Etagenwohnung aufbauen will, kann die zerlegbare Variante bestellen.
Mit solchen und weiteren Details
sich auch eine Telefonzellen-Fanszene. Ihre Mitglieder tauschen sich im Internet aus. Da träumen Sammler dann von seltenen Baureihen, etwa von dem wie eine Litfaßsäule geformten Sondermodell für die Olympischen Spiele 1972 in München. Für manche Zellen werden sogar weite Wege in Kauf genommen. Auf dem historischen Dorfanger von Berlin-Lübars zum Beispiel ist ein Häuschen aus den 1930er Jahren zum beliebten Fotomotiv geworden.
Kaum jemand hat sich so intensiv mit der Frage beschäftigt, warum Telefonzellen, obwohl weitgehend überflüssig, auf viele Menschen eine derart große Faszination ausüben, wie Lioba Nägele. Sie ist Kulturhistorikerin am Frankfurter Museum für Kommunikation. „Gerade Menschen, die in den 1960er Jahren oder früher geboren sind, verbinden entscheidende Momente ihres Lebens mit Telefonzellen“, sagt sie. Noch 1963 haben nur 14 Prozent der Haushalte über ein eigenes Telefon verfügt. Und wenn doch ein Gerät vorhanden war, stand es im Flur, die ganze Familie konnte mithören. „Private Gespräche waren nur in der Telefonzelle möglich. In der Geschichte unzähliger Liebesbeziehungen spielen diese kleinen Rückzugsorte im öffentlichen Raum eine entscheidende Rolle“, sagt Nägele. Wenn Eltern heute von der Telefonzellen-Ära erzählten, reagierten Juzellen gendliche oft so, als würde von der Steinzeit berichtet. Ein Leben ohne eigenes Handy? Unvorstellbar.
Dabei können auch viele Erwachsene kaum glauben, dass es erst rund drei Jahrzehnte her ist, seit die ersten noch backsteingroßen Handys im Straßenbild auftauchten. Deren Besitzer wurden oft als Wichtigtuer verspottet. Doch der Aufstieg von Handy und Smartphone war unaufhaltsam – und damit das Ende der meisten öffentlichen Fernsprecher.
1881 war in Berlin der erste „Fernsprechkiosk“in Betrieb genommen worden. Ab den 1920er Jahren gehörte er in Städten zum Straßenbild, wurde fester Teil der Alltags- und Populärkultur. „Von der Telefonzelle aus riefen im Krimi immer die Erpresser an. Und vom früheren Bundeskanzler Helmut Kohl heißt es, dass er in Telefonzellen ging, weil er sich dort sicher war, nicht abgehört zu werden“, erklärt Expertin Lioba Nägele. Gegenstand unzähliger Witze und Karikaturen waren dauerquatschende Zeitgenossen – meist Frauen –, die für lange Schlangen vor der Zelle sorgten. Und das Rätsel, warum in den Telefonbüchern immer ausgerechnet die Seite herausgerissen war, auf der die gesuchte Nummer stand, beschäftigte Generationen.
Kulturgeschichtlerin Nägele sieht einen großen Gegensatz zwischen der heutigen Nostalgie und der damaligen Wahrnehmung: „Telefonbeschäftigt
standen im Ruf, ständig verdreckt, kaputt und besetzt zu sein.“Und dann erst der Geruch. „Ein Aschenbecher gehörte ja lange zur Standard-Ausstattung, doch Qualm war längst nicht das Schlimmste“, sagt Nägele. Die Schweißnote der Vorbenutzer sei gerade im Sommer in den unbelüfteten Zellen lange wahrnehmbar gewesen. „Dazu kam oft eine Mischung aus teils nicht beschreibbaren Dingen“, sagt sie. Ein heikles Thema. Telefonzellen wurden bisweilen als stille Örtchen missbraucht. Und sei dies einmal geschehen, so Nägele, lasse sich der stechende Geruch selbst mit Hochdruckreiniger und Desinfektionsmittel kaum mehr vertreiben.
Unter den Praktikern in Michendorf wird geraunt, dass bei dieser Telefonzellen-Ferkel-Quote deutliche innerdeutsche Unterschiede festzustellen seien. Anhand einer
Nummer können sie sehen, wo ein Häuschen einmal stand. Die aus Berlin seien sehr häufig harnbelastet, solche aus süddeutschen Städten wie München fast nie, heißt es. Verkauft würden aber ohnehin nur einwandfreie Exemplare.
Was mit denen anschließend geschieht, damit hat sich Lioba Nägele ebenfalls beschäftigt – zudem finden sich im Internet viele Berichte vom Zellen-Tuning. Ein Klassiker ist der Umbau zur Duschkabine, entweder für den Garten oder fürs Badezimmer. Auch die Telefonzellen-Grillstation ist beliebt, manchmal mit Beleuchtung und aufwendiger Entlüftung. Weil die Zellen ziemlich schalldicht sind, wurden einige zum Mini-Tonstudio umfunktioniert. Auf etlichen Werksgeländen stehen in den Firmenfarben lackierte Häuschen und dienen als Treffpunkte bei Feueralarm. In lauten Großraumbüros erfüllen sie sogar noch quasi ihren eigentlichen Zweck und ermöglichen ungestörte Telefonate – mit dem Handy.
Viele Exemplare dienen auch Werbezwecken: So hat ein Möbelhaus aus Grabow in MecklenburgVorpommern in eine Telefonzelle die nach eigenen Angaben „kleinste Küche der Welt“eingebaut, mit Spüle und Mikrowellenherd. Und „voll funktionstüchtig für Außenveranstaltungen“. Die allermeisten recycelten Telefonzellen aber, Lioba Nägele schätzt den Anteil auf rund 80 Prozent, führen ein zweites Leben als sogenannte Bücherboxen. Aufgestellt auf öffentlichen Plätzen, können Bürger darin alte Bücher ablegen und sich neuen Lesestoff mitnehmen. „So bleibt die Telefonzelle weiter ein Ort des Austauschs und behält ihre Funktion im öffentlichen Raum.“
Experten empfehlen übrigens dringend, die Kabinen umzuspritzen, bevor sie als Mini-Bibliothek wieder aufgestellt werden. Denn schon kursiert über die Boxen folgende, wenngleich unbestätigte Geschichte: Ein Unfall passiert, es gibt Verletzte, doch keiner der Beteiligten hat ein Handy dabei. Einer läuft los, um eine Telefonzelle zu suchen. Endlich findet er eine. Darin: keine Spur von einem Fernsprecher, stattdessen jede Menge Kinderbücher.
Noch gibt es im Wald bei Michendorf genügend alte Zellen. Weil aus jedem Häuschen ja etwas Neues entsteht, bekommen sie dort Schnappatmung, wenn in Medien mal wieder vom „Friedhof der Telefonzellen“die Rede ist. Der Verkauf jedenfalls läuft offenbar gut und nach dem Prinzip: „Wenn weg, dann weg.“Der Abtransport aber gilt als heikel. Selbst 20 Mann, so heißt es, täten sich schwer, eine Zelle aufzuladen, was keineswegs am Gewicht von rund 300 Kilogramm liege. Die glatten, rutschigen Gebilde aus glasfaserverstärktem Kunststoff mit ihren gerundeten Kanten seien kaum zu packen. Irgendwann wird ein Stapler die letzte Kabine verladen. Die Preise werden dann kräftig anziehen, glauben Telefonzellen-Fans.
Zurück zu dem Mann, der von der Garten-Telefonkabine mit Zusatzfunktion als WC träumt. Er muss an diesem Tag mit leerem Pferdeanhänger die Heimfahrt antreten. Immerhin weiß er jetzt, welchen Weg er nehmen muss, um irgendwann einmal wenigstens eine Telefonzelle zu ergattern. Und einen wichtigen Wink hat er auch bekommen: Wer bei der Bestellung einer Zelle einen anrüchigen Verwendungszweck angebe, eine Toilette etwa, der habe bei der Zuteilung schlechte Karten. So hat er es sich kurzfristig anders überlegt, wie er mit einem treuherzigen Grinsen versichert: „Da wird natürlich n’ Bücherregal draus. Für den Jöthe und so.“
Bei zu wenig Umsatz wird eine Telefonzelle abgebaut
Umbauten erfreuen sich großer Beliebtheit