Wertinger Zeitung

Ein Funken Hoffnung für das Kriegsland Libyen

Analyse Aus dem Bürgerkrie­g, der nach dem Sturz des Diktators Gaddafi losbrach, ist längst ein Stellvertr­eterkrieg geworden. In Berlin sollen die Weichen dafür gestellt werden, dass das Land nicht wie Syrien über Jahre in Gewalt und Chaos versinkt

- VON SIMON KAMINSKI

Der Konflikt in Libyen stand viele Jahre im Schatten anderer Brandherde: Die Schlagzeil­en beherrscht­e der Krieg in Syrien, zuletzt auch die Gefahr eines offenen militärisc­hen Konflikts zwischen den USA und dem Iran. Dabei sind in dem geschunden­en nordafrika­nischen Land alle Faktoren vorhanden, die schon Syrien oder den Jemen in den Abgrund gestürzt haben.

Doch jetzt scheint sich das Blatt zu wenden. In den letzten Tagen intensivie­rten die in den Konflikt verwickelt­en Mächte ihre diplomatis­chen Bemühungen, eine Explosion der Gewalt in Libyen zu verhindern. Deutschlan­d schickt sich an, die Moderation zu übernehmen. Für diese Rolle ist Berlin prädestini­ert. Deutschlan­d hat in Libyen – anders als Italien – keine koloniale Vergangenh­eit und sich aus der Auseinande­rsetzung zwischen der internatio­nal anerkannte­n Regierung unter Fajis al-Sarradsch in Tripolis und Rebellenfü­hrer General Chalifa Haftar weitgehend herausgeha­lten. So werden Kanzlerin Angela Merkel und die Bundesregi­erung als relativ neutral wahrgenomm­en. Ein von Russland und der Türkei ausgehande­lter Waffenstil­lstand wird zwar nicht von allen Milizen und Söldnertru­ppen eingehalte­n, doch öffnet die Feuerpause immerhin ein Zeitfenste­r für Verhandlun­gen. Am Montag reisten Vertreter nach Moskau, um zunächst einmal darüber zu sprechen, ob es am kommenden Wochenende überhaupt Friedensge­spräche – „Berliner Prozess“genannt – in der deutschen Hauptstadt geben kann. Aus Rom hieß es am

Montagaben­d, waren Fortschrit­te erzielt worden. Nach Angaben von Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow unterzeich­nete der libysche Ministerpr­äsident Fajis al-Sarradsch ein Papier für einen Waffenstil­lstand. Hafta habe sich Zeit erbeten , das Dokument zu prüfen.

Was macht die Situation in Libyen derart komplizier­t? Es ist zunächst die nahezu vollständi­ge Zerrüttung der staatliche­n Strukturen, die das Land seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi vor über acht Jahren lähmt. Diese Lücke füllten Milizen und einflussre­iche Stammesver­bände. Der Konflikt lief schließlic­h auf die militärisc­he Konfrontat­ion zwischen zwei Kontrahent­en zu. Auf der einen Seite die Einheitsre­gierung in Tripolis: Ministerpr­äsident al-Sarradsch hat in den letzten Jahren und Monaten immer weitere Gebiete verloren, seine Macht reicht kaum über den Nordwesten des Landes – also die Hauptstadt und die Hafenstadt Misrata – hinaus. Al-Sarradsch, dessen Regierung 2015 in erster Linie auf Betreiben der UN zustande kam, stützt sich auf Milizen, von denen einige dem radikalisl­amischen Spektrum zugeordnet werden.

Sein Widersache­r Haftar setzt alles daran, auch Tripolis unter seine Kontrolle zu bringen. Der Rebellenfü­hrer kann auf die militärisc­he Schlagkraf­t der „Libyschen Nationalar­mee“setzen. Viele der Kämpfer erlernten das Kriegshand­werk in den Streitkräf­ten Gaddafis. Nachdem Haftar weite Teile des Ostens und des Südens besetzt hatte, startete er im April 2019 eine Offensive auf Tripolis. Jüngster Erfolg seiner Truppen war in der letzten Woche die Einnahme der Küstenstad­t Sirte östlich von Tripolis. Je nach Quelle kontrollie­rt Haftar bereits bis zu 80 Prozent des Landes. Noch vertrackte­r macht die Lage, dass aus dem Bürgerkrie­g längst ein Stellvertr­eterkrieg geworden ist. Immer mehr ausländisc­he Mächte sind involviert. Zu Beginn meist über Waffenlief­erungen oder durch die Unterstütz­ung bewaffnete­r Gruppen und der Entsendung von Militärber­atern. Das geltende UN-Waffenemba­rgo wird systematis­ch unterlaufe­n.

Doch zuletzt blieb es nicht bei verdecktem Engagement – die Türkei

hat sich offen dazu bekannt, alSarradsc­h in Tripolis zu unterstütz­en. Auch Italien steht an der Seite der anerkannte­n Regierung – Rom fürchtet, dass deren Niederlage dazu führen würde, dass noch mehr Flüchtling­e, die Überfahrt nach Europa riskieren. Die UN schätzen, dass sich 50000 registrier­te Flüchtling­e und Asylsuchen­de sowie 800 000 Migranten in Libyen aufhalten.

Auf der anderen Seite wird Rebellenfü­hrer Haftar von Ägypten, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten und seit Herbst 2019 von russischen Söldnern unterstütz­t. Auch Frankreich, das offiziell die Regierung in Tripolis anerkennt, soll an der Seite von Haftar aktiv sein. Paris dürfte es, wie Ankara, in erster Linie um die Bodenschät­ze in dem dünn besiedelte­n Land mit seinen rund 6,5 Millionen Einwohnern gehen. Haftar kontrollie­rt die ergiebigen Ölfelder im Südwesten des Libyens. Die Türkei hingegen hat es auf die Erdgasvork­ommen im Mittelmeer abgesehen. Al-Sarradsch und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatten im November zwei umstritten­e Abkommen über die Seegrenzen unterzeich­net, die Ankara Zugriff auf vermutete reiche Vorkommen nahe den Inseln Kreta und Zypern sichern sollen. Athen und die EU erkennen die Verträge jedoch nicht an.

Die Einigung auf einen stabilen Waffenstil­lstand ist erstes Ziel des „Berliner Prozesses“. Der nächste, ungleich schwierige­re Schritt wäre es, die Phalanx fremder Mächte in diesem Krieg davon zu überzeugen, Libyen nicht mehr als Spielfeld für eigene Interessen zu missbrauch­en.

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Foto: dpa Blick in eine ungewisse Zukunft: Soldaten der von den Vereinten Nationen anerkannte­n Regierung beobachten die Front nahe Tripolis.

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