Gegen alle Gesetze der Schwerkraft
Ein Bild und seine Geschichte Wilfried Dietrichs Schultersieg über den knapp vier Zentner schweren US-Amerikaner Taylor wurde zum „Wurf des Jahrhunderts“gekürt (Serie, Teil 7)
Am 5. September 1972 brachte die palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“im olympischen Dorf in München elf israelische Athleten in ihre Gewalt. Im Rahmen der missglückten Befreiungsaktion starben in der Nacht zum 6. September alle elf Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist.
Eigentlich kaum zu glauben, aber es gab sie dann trotzdem, diese raren und umso wichtigeren Lichtblicke, die das dunkelste Kapitel der olympischen Geschichte ein klein wenig erleuchten konnten. Die Hochglanzbilder, die aus den Trümmern des olympischen Gedankens geborgen werden konnten – und die den Olympischen Spielen von München 1972 im Rückblick auch Erinnerungen außerhalb eines schrecklichen Massakers bescherten. Unvergessen sind die Goldsprünge von Ulrike Meyfahrth (hoch) und Heide Rosendahl (weit) – insgesamt zehn Goldmedaillen sammelten die deutschen Athleten, denn die Spiele trugen Trauer, aber sie gingen weiter.
Für einen halben Tag, so wurde es beschlossen, ruhten alle Wettkämpfe, dann wurden sie fortgesetzt mit einer schweren Last auf allen Schultern. Einer der Ersten, die am Nachmittag des 6. September wieder auf die Matte musste, war die deutsche Ringerlegende Wilfried Dietrich. Der 38-Jährige, der bereits 1956 in Melbourne olympisches Silber gewonnen hatte und anschließend auch in Rom, Tokio und Mexiko-Stadt auf dem Treppchen stehen durfte, wollte seine Sportkarriere unweit seines Heimatorts mit einem letzten großen Erfolg beschließen. Doch dann stand dem
Mann aus Schifferstadt, mit 115 Kilogramm selbst kein Leichtgewicht, ein wahrer Riese gegenüber. Der US-Amerikaner Chris Taylor hatte Dietrich bereits im freien Stil mit purer Masse zu Boden gezwungen, jetzt hatte das Los Dietrich auch in der ersten Runde im griechisch-römischen Stil den 184-Kilo-Koloss als Gegner beschert.
Dietrich hatte sich im zweiten Duell mit dem Goliath seine olympische Steinschleuder zurechtgelegt. „Wenn ich unter seinen Armen durchkomme und die Finger zusammenkriege, dann werfe ich ihn“, erklärte der damalige Bundestrainer Heinz Ostermann. „Da kannst du auch tot sein, wenn es schiefgeht“, entgegnete dieser. Es ging nicht schief: Dietrich bekam die Fingerspitzen zusammen und wuchtete gegen alle Gesetze der Schwerkraft knapp vier Zentner über sich hinweg auf die Ringmatte. 6000 Zuschauer in der Ringerhalle tobten und der Weltringerverband sollte den Untergriff von Wilfried Dietrich
später zum „Wurf des Jahrhunderts“küren. Dietrich blieb übrigens nach Disqualifikation in der Folgerunde ohne Medaille und verschwand noch vor der Siegerzeremonie aus München. 1992 starb der „Kran von Schifferstadt“in Durbanville/Südafrika.
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Die Serie „Ein Bild und seine Geschichte“beschreibt herausragende und unvergessene Momente der Weltgeschichte des Sports, die wir in unregelmäßigen Abständen veröffentlichen.