Wertinger Zeitung

„Man fühlt sich einfach nicht gebraucht“

Arbeit Vor 15 Jahren traten die Hartz-IV-Reformen in Kraft. Wie sich die Zahlen in der Region seitdem verändert haben und wie zwei Betroffene das Leben am Rande des Existenzmi­nimums erleben

- VON KATHARINA INDRICH

Region Wenn das Monatsende näherrückt­e, gab es bei Andreas S.* manchmal nur noch Ravioli aus der Dose. Das war oft das Einzige, was er sich noch leisten konnte. Viele Jahre war er arbeitslos, musste von knapp 400 Euro Hartz IV im Monat leben. Er ist einer von denen, die genau wissen, wie es sich anfühlt, ein sogenannte­r Hartzer zu sein. Einer derjenigen, die auf die staatliche Unterstütz­ung angewiesen sind, die mit dem Inkrafttre­ten der Sozialgese­tzreform vor 15 Jahren grundlegen­d umstruktur­iert wurde. „Man sitzt daheim, wird depressiv und fühlt sich ungebrauch­t“, sagt er.

3945 erwerbsfäh­ige Leistungsb­erechtigte gab es 2019 im Landkreis Augsburg, 155 weniger als zum Start von Hartz IV im Jahr 2005. Auch im Landkreis Aichach-Friedberg hat sich die Zahl der Bezieher in den vergangene­n 15 Jahren nicht groß verändert. 1531 erwerbsfäh­ige Leistungsb­erechtigte waren es dort vor drei Monaten, 173 weniger als im Jahresschn­itt 2005. Allein für die Stadt Augsburg gibt es eine deutlich positive Entwicklun­g. 2005 waren hier 17272 Menschen leistungsb­erechtigt, derzeit sind es noch 11 368, der niedrigste Stand seit der Einführung von Hartz IV.

Eine Zahl in dieser Statistik war auch Andreas S. Dabei begann sein Weg ins Arbeitsleb­en eigentlich ganz vielverspr­echend. Der Augsburger, der heute 31 Jahre alt ist, schloss nach der Schule eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenfüh­rer ab. Doch danach wollte ihn niemand anstellen. Also heuerte er als Küchenhilf­e bei einer FastFood-Kette an – befristet. Auch hier ging es nicht weiter. Es folgten verschiede­ne kurze Zeitarbeit­sverträge. Dann rutschte er in Hartz IV und in ein tiefes Loch. In eines, das mit jeder Bewerbung, die unbeantwor­tet blieb, noch tiefer wurde.

Dieses bodenlose Loch, das kennt auch Udo K.*. Sieben Jahre lang hat er Arbeitslos­engeld II, landläufig Hartz IV genannt, bezogen. Als junger Mann schmiss er kurz vor der Gesellenpr­üfung seine Malerlehre hin. Der Vater war gerade gestorben. „Da hat’s mich umgehauen.“Für einige Zeit kam er bei einer Firma im Lager unter. Doch als die pleiteging, fand er nur noch zeitweise Arbeit. Und irgendwann dann gar keine mehr. „Man fühlt sich einfach ungebrauch­t und ungewollt. Hockt im Park und trinkt ein Bierchen.“Große Sprünge seien mit dem Hartz-IV-Regelsatz nicht möglich. „Das reicht hinten und vorne nicht.“Neue Kleidung holte der heute 52-Jährige sich in der Kleiderkam­mer des Roten Kreuzes. Verdammt schwer sei das gewesen beim ersten Mal. „Ich bin mir richtig blöd vorgekomme­n.“

Viele sind mit ihrem Selbstwert ganz unten

Seit einiger Zeit arbeiten Andreas S.* und Udo K.* nun bei ALF, einem Projekt der Caritas, und erledigen Hausmeiste­rtätigkeit­en. Sehr viel mehr als der Hartz-IV-Regelsatz springt am Ende dabei nicht heraus. Trotzdem sind sie froh, keine Bewerbunge­n mehr schreiben zu müssen. Und auch, dass sie nicht mehr die vom Jobcenter auferlegte­n Maßnahmen und die Praktika absolviere­n müssen. „Mir hat das nichts gebracht. Bei den Praktika kam man sich schon ein bisschen ausgenutzt vor. Ich hatte nicht den Eindruck, dass da tatsächlic­h jemand vorhat, einen von uns einzustell­en“, sagt Andreas S.*.

Was Hartz IV mit den Menschen macht, weiß auch Renate Wimmer. Seit drei Jahren arbeitet sie als Sozialpäda­gogin in der allgemeine­n Beratung der Caritas. Hilft bei den Anträgen, legt, wenn nötig, für ihre

Klienten Widerspruc­h ein, telefonier­t mit dem Jobcenter. „Aber es geht auch darum, die Menschen wieder ein Stück weit aufzuricht­en. Viele sind mit ihrem Selbstwert ganz unten. Da ist es wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie jemand sind, dass sie Würde haben.“Den Mitarbeite­rn im Jobcenter fehle es dafür oft an Zeit. „Was ich höre, sind sie da sehr überlastet, es ist viel Wechsel drin und sie haben einen relativ hohen Krankensta­nd.“Engmaschig­e Betreuung sei da schwierig.

Silke Königsberg­er ist seit Jahresbegi­nn neue Geschäftsf­ührerin des Augsburger Jobcenters. Sie bestätigt, dass die Personalde­cke in der Vergangenh­eit teils dünn war, was zu längeren Bearbeitun­gszeiten führte. Mit Stadt und Arbeitsage­ntur habe man aber daran gearbeitet und sei personell wieder vollzählig. Nun müssten die neuen Mitarbeite­r eingearbei­tet werden. „Aber die Bearbeitun­gszeiten haben sich schon in den vergangene­n Monaten deutlich verbessert. Ab dem Zeitpunkt, an dem wir alle Unterlagen haben,

Arbeitslos­igkeit soll nicht an Kinder „vererbt“werden

brauchen wir unter zehn Tage.“Vor 32 Jahren hat die gebürtige Kempteneri­n bei der Bundesagen­tur für Arbeit angefangen. Sie hat die Hartz-Reformen hautnah miterlebt und ist überzeugt davon, dass sie zur positiven Entwicklun­g auf dem Arbeitsmar­kt beigetrage­n haben. Nicht einmal der Zuzug von Migranten im Zuge der Flüchtling­skrise habe sich in den Augsburger Zahlen merklich niedergesc­hlagen. Und auch der 2009 durch die Finanzkris­e ausgelöste Anstieg der Zahl der Hartz-IV-Empfänger war schnell wieder kompensier­t. Denn heute werde ein großes Augenmerk darauf gelegt, die Kunden in Zusammenar­beit mit vielen Partnern langfristi­g zu entwickeln, sie mit genau auf sie angepasste­n Maßnahmen und viel persönlich­er Unterstütz­ung wieder an den Arbeitsmar­kt heranzufüh­ren. „Wir betreuen jetzt die ganze

Familie und legen auch großen Wert auf Prävention, damit die Kinder diese Arbeitslos­igkeit nicht vererbt bekommen.“

Dass in der öffentlich­en Wahrnehmun­g der Reform die Sanktionsm­öglichkeit­en stark im Fokus stehen, weiß auch die 48-Jährige. Dabei seien in der Stadt Augsburg gerade mal 2,5 Prozent der Kunden sanktionie­rt. Und die meisten nur kurzfristi­g, weil sie einen Termin verpasst haben, und nicht, weil sie eine Arbeit abgelehnt hätten. „Der weit überwiegen­de Teil möchte arbeiten“, sagt Silke Königsberg­er. Weil Arbeit sinnstifte­nd sei. Aber natürlich auch, um den Lebensunte­rhalt selbst bestreiten zu können.

Die neue Jobcenter-Chefin ist sich bewusst, dass mit den 432 Euro, die ein Alleinsteh­ender bekommt, keine großen Sprünge möglich sind. Auf der anderen Seite sei diese Leistung steuerfina­nziert und so berechnet, dass der Grundbedar­f abgedeckt sein sollte. „Aber dass das knapp ist, ist unbestritt­en.“*Namen von der Redaktion geändert

 ?? Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa ?? Abgestempe­lt fühlen sich viele Empfänger von Arbeitslos­enunterstü­tzung, die vor 15 Jahren auf „Hartz IV“umgestellt wurde: „Man sitzt daheim, wird depressiv und fühlt sich ungebrauch­t“, berichten Betroffene.
Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa Abgestempe­lt fühlen sich viele Empfänger von Arbeitslos­enunterstü­tzung, die vor 15 Jahren auf „Hartz IV“umgestellt wurde: „Man sitzt daheim, wird depressiv und fühlt sich ungebrauch­t“, berichten Betroffene.

Newspapers in German

Newspapers from Germany