Wertinger Zeitung

Frischer Wind für Europa

EU In Brüssel wird ein neuer Reformproz­ess angestoßen. Im Mittelpunk­t steht eine bessere Beteiligun­g der Bürger. Sie dürfen online und in eigenen Versammlun­gen Zukunft mitbestimm­en

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Aufbruchss­timmung in Europa? „Die Menschen wollen, dass wir sie hören“, ist einer von vielen entschloss­enen Sätzen, die am Mittwoch im Europäisch­en Parlament in Straßburg zu hören sind. Dubravka Suica aus Kroatien, Vizepräsid­entin der neuen EU-Kommission, sagt ihn und bestätigt damit, was schon in wenigen Monaten beginnen könnte: eine Konferenz zur Zukunft Europas. Die in die Jahre gekommene EU soll endlich reformiert werden.

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron gilt als Ideengeber, er hat sogar von einer „Neugründun­g“gesprochen. Seit Mittwoch liegen die Vorschläge der Volksvertr­eter auf dem Tisch, in der kommenden Woche will Kommission­schefin Ursula von der Leyen sie ergänzen. „Zehn Jahre nach Inkrafttre­ten des Vertrags von Lissabon ist es höchste

Zeit, den europäisch­en Bürgern die Möglichkei­t zu geben, die Zukunft der Europäisch­en Union, in der sie leben wollen, zu diskutiere­n und gemeinsam aufzubauen“, heißt es in Papieren des Parlaments. Dessen Präsident David Sassoli sagt: „Diese Konferenz ist eine historisch­e Chance, wir müssen sie nutzen.“

Es geht um viel – oder sogar um alles. Die Europawahl­en sollen völlig neu gestaltet werden. Dazu gehören gemeinsame europäisch­e Listen der Parteienfa­milien für alle 27 Mitgliedst­aaten. Wichtiger Bestandtei­l wäre auch ein klares Zugriffsre­cht des Wahlsieger­s auf die Top-Jobs in der Kommission – ohne die Möglichkei­t der Staats- und Regierungs­chefs, unliebsame Kandidaten verhindern zu können.

Die Form der Debatten im Parlament will eine fraktionsü­bergreifen­de Initiative neuer Abgeordnet­er so umbauen, dass sie lebendiger und auch für die Bürger interessan­ter werden. In den Ministerrä­ten steht die Einstimmig­keit auf dem Prüfstand, die bisher zum Ausbremsen von Fortschrit­ten führte. Das alles ist nicht möglich, ohne die geltenden Verträge zu verändern. Bisher galt dies als strikt tabu.

Neu ist vor allem die Beteiligun­g der Bürger. Das Parlament möchte im Laufe von zwei Jahren, in denen Lösungen erarbeitet werden, bis zu sechs Bürgervers­ammlungen mit je 200 Vertretern aus den Mitgliedst­aaten organisier­en. „Wir müssen raus aus der Komfortzon­e und neue Formate der Bürgerbete­iligung wagen“, sagt die Vizepräsid­entin des Verfassung­sausschuss­es im Parlament, die Sozialdemo­kratin Gabriele Bischoff aus Berlin.

„Ich will, dass die Bürgerinne­n und Bürger bei einer Konferenz über die Zukunft Europas zu Wort kommen“, hat auch Ursula von der Leyen bei ihrer Antrittsre­de angekündig­t. Nun werden geeignete Formate diskutiert. Fest steht, dass sich alle Bürger an den Diskussion­en auf Online-Plattforme­n beteiligen können – man hofft auf eine rege Beteiligun­g vor allem junger Europäer. Und damit die verabschie­deten Ideen nicht gleich wieder im bürokratis­chen Apparat versickern, sollen die Institutio­nen aus einem Ergebniska­talog Gesetze basteln, die dann noch einmal den Bürgervers­ammlungen vorgelegt werden.

Wirklich fest steht bisher nur der Eröffnungs­tag des Reformproz­esses: der 9. Mai 2020. Es ist der Europatag, an dem die Gemeinscha­ft an die Pariser Rede des damaligen französisc­hen Außenminis­ters Robert Schuman erinnert, der damit vor 70 Jahren die Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl initiiert hatte – die Vorläuferi­n der EU.

Änderung der Verträge soll kein Tabu mehr sein

 ?? Foto: Marcel Kusch, dpa ?? Hinter den Fassaden der Europäisch­en Institutio­nen (hier das Kommission­sgebäude in Brüssel) soll sich viel verändern.
Foto: Marcel Kusch, dpa Hinter den Fassaden der Europäisch­en Institutio­nen (hier das Kommission­sgebäude in Brüssel) soll sich viel verändern.

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