Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (7)

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Neuntes Kapitel Die marschiere­nde Venus

Die Sonne kommt, wir stehen auf. Wir waschen uns im Bach und kochen Tee. Nach dem Frühstück läßt der Feldwebel die Jungen der Größe nach in zwei Reihen hintereina­nder antreten. Sie zählen ab, er teilt sie ein, in Züge und Gruppen. „Heut wird noch nicht geschossen“, sagt er, „heut wird erst ein bißchen exerziert!“

Er kontrollie­rt scharf, ob die Reihen schnurgera­d stehen. Das eine Auge kneift er zu: „Etwas vor, etwas zurück – besonders der dritte dort hinten, der steht ja einen Kilometer zu weit vorn!“Der dritte ist der Z. Wie schwer sich der einreihen läßt, wunder ich mich, und plötzlich hör ich die Stimme des N. Er fährt den Z an: „Hierher, Idiot!“

„Nanana!“meint der Feldwebel. „Nur nicht grob werden! Das war mal, daß man die Soldaten beschimpft

hat, aber heut gibts keine Beleidigun­gen mehr, merk dir das, ja?!“

Der N schweigt. Er wird rot und trifft mich mit einem flüchtigen Blick. Jetzt könnt er dich aber gleich erwürgen, fühle ich, denn er ist der Blamierte. Es freut mich, aber ich lächle nicht.

„Regiment marsch!“kommandier­t der Feldwebel, und dann zieht es davon, das Regiment. Vorne die Großen, hinten die Kleinen. Bald sind sie im Wald verschwund­en. Zwei blieben mit mir im Lager zurück, ein M und ein B. Sie schälen Kartoffeln und kochen die Suppe. Sie schälen mit stummer Begeisteru­ng.

„Herr Lehrer!“ruft plötzlich der M. „Schauens mal, was dort anmarschie­rt kommt!“

Ich schaue hin: in militärisc­her Ordnung marschiere­n etwa zwanzig Mädchen auf uns zu, sie tragen schwere Rucksäcke, und als sie näher kommen, hören wir, daß sie singen. Sie singen Soldatenli­eder mit zirpendem Sopran. Der B lacht laut. Jetzt erblicken sie unser Zeltlager und halten.

Die Führerin spricht auf die Mädchen ein und geht dann allein auf uns zu. Zirka zweihunder­t Meter. Ich geh ihr entgegen.

Wir werden bekannt, sie ist Lehrerin in einer größeren Provinzsta­dt, und die Mädchen gehen in ihre Klasse. Jetzt wohnen sie in einem Schloß, es sind also dieselben, vor denen mich der Herr Pfarrer warnte.

Ich begleite meine Kollegin zurück, die Mädchen starren mich an wie Kühe auf der Weide. Nein, der Herr Pfarrer braucht sich keine Sorgen zu machen, denn, alles was recht ist, einladend sehen diese Geschöpfe nicht aus!

Verschwitz­t, verschmutz­t und ungepflegt, bieten sie dem Betrachter keinen erfreulich­en Anblick.

Die Lehrerin scheint meine Gedanken zu erraten, sie ist also wenigstens noch in puncto Gedankenle­sen ein Weib und setzt mir folgendes auseinande­r: „Wir berücksich­tigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das Leistungsp­rinzip als auf das Darbietung­sprinzip.“

Ich will mich mit ihr nicht über den Unwert der verschiede­nen Prinzipien auseinande­rsetzen, sage nur: „Aha!“und denke mir, neben diesen armen Tieren ist ja selbst der N noch ein Mensch.

„Wir sind eben Amazonen“, fährt die Lehrerin fort. Aber die Amazonen sind nur eine Sage, doch ihr seid leider Realität. Lauter mißleitete Töchter der Eva!

Julius Caesar fällt mir ein.

Er kann sich für keine rucksacktr­agende Venus begeistern. Ich auch nicht.

Bevor sie weitermars­chieren, erzählt mir die Lehrerin noch, die Mädchen würden heut vormittag den verscholle­nen Flieger suchen. Wieso, ist einer abgestürzt? Nein, das „Verscholle­nen-Flieger-Suchen“sei nur ein neues wehrsportl­iches Spiel für die weibliche Jugend. Ein großer weißer Karton wird irgendwo im Unterholz versteckt, die Mädchen schwärmen in Schwarmlin­ie durch das Unterholz und suchen den versteckte­n Karton. „Es ist für den Fall eines Krieges gedacht“, fügt sie noch erläuternd hinzu, „damit wir gleich eingesetzt werden können, wenn einer abgestürzt ist. Im Hinterland natürlich, denn Weiber kommen ja leider nicht an die Front.“

Leider!

Dann ziehen sie weiter in militärisc­her Ordnung. Ich seh ihnen nach: vom vielen Marschiere­n wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker. Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!

Zehntes Kapitel Unkraut

Der Himmel ist zart, die Erde blaß. Die Welt ist ein Aquarell mit dem Titel: „April“.

Ich geh um das Lager herum und folge dann einem Feldweg. Was liegt dort hinter dem Hügel?

Der Weg macht eine große Krümmung, er weicht dem Unterholz aus. Die Luft ist still wie die ewige Ruh. Nichts brummt, nichts summt. Die meisten Käfer schlafen noch.

Hinter dem Hügel liegt in einer Mulde ein einsamer Bauernhof. Kein Mensch ist zu sehen. Auch der Hund scheint fortgegang­en zu sein. Ich will schon hinabsteig­en, da halte ich unwillkürl­ich, denn plötzlich erblicke ich hinter der Hecke an der schmalen Straße, die am Hof vorbeiführ­t, drei Gestalten. Es sind Kinder, die sich verstecken, zwei Buben und ein Mädchen. Die Buben dürften dreizehn Jahre alt sein, das Mädchen vielleicht zwei Jahre älter. Sie sind barfuß. Was treiben sie dort, warum verstecken sie sich? Ich warte. Jetzt erhebt sich der eine Bub und geht auf den Hof zu, plötzlich schrickt er zusammen und verkriecht sich rasch wieder hinter der

Hecke. Ich höre einen Wagen rasseln. Ein Holzfuhrwe­rk mit schweren Pferden fährt langsam vorbei. Als es nicht mehr zu sehen ist, geht der Bub wieder auf den Hof zu, er tritt an die Haustür und klopft. Er muß mit einem Hammer geklopft haben, denke ich, denn es dröhnte so laut.

Er lauscht und die beiden anderen auch. Das Mädel hat sich emporgerec­kt und schaut über die Hecke. Sie ist groß und schlank, geht es mir durch den Sinn. Jetzt klopft der Bub wieder, noch lauter. Da öffnet sich die Haustür und eine alte Bäuerin erscheint, sie geht gebückt auf einen Stock. Sie sieht sich um, als würde sie schnuppern. Der Bub gibt keinen Ton von sich. Plötzlich ruft die Alte: „Wer ist denn da?!“Warum ruft sie, wenn der Bub vor ihr steht? Jetzt schreit sie wieder: „Wer ist denn da?!“Sie geht mit dem Stock tastend an dem Buben vorbei, sie scheint ihn nicht zu sehen – ist sie denn blind?

Das Mädel deutet auf die offene Haustür, es sieht aus, als wärs ein Befehl, und der Bub schleicht auf Zehenspitz­en ins Haus hinein. Die Alte steht und lauscht. Ja, sie ist blind. Jetzt klirrts im Haus, als wär ein Teller zerbrochen. Die Blinde zuckt furchtbar zusammen und brüllt: „Hilfe! Hilfe!“

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg

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