Wertinger Zeitung

Udo wird zum Filmstar

Evolution Ein Kamerateam begibt sich auf eine Spurensuch­e, die an wissenscha­ftlichen Grundfeste­n rüttelt. In einer der Hauptrolle­n: ein Menschenaf­fe aus dem Allgäu

- VON JESSICA STIEGELMAY­ER

Kaufbeuren/Pforzen Der eine wirbelt durch die Wissenscha­ftsgeschic­hte, der andere rockt durch sein junges Leben: Udo und Udo werden zu Filmstars. Während der 11,6 Millionen Jahre alte, aufrecht gehende Menschenaf­fe in der Dokumentat­ion „Europa – Wiege der Menschheit?“eine der Hauptrolle­n spielt, macht Namenspatr­on Udo Lindenberg auf der Kinoleinwa­nd sein Ding. Seit der Sensations­fund aus dem Allgäu im November der Öffentlich­keit vorgestell­t wurde, steht er weltweit im Rampenlich­t. Aber wie hat es Udo jetzt in eine Arte-Dokumentat­ion geschafft?

Alles begann mit einem fossilen Unterkiefe­r aus Griechenla­nd und einem Backenzahn aus Bulgarien. Sie markieren den Beginn einer Reise, während der sich die Paläontolo­gin Madelaine Böhme, Udos Entdeckeri­n, bald fragen wird: „Könnten unsere Wurzeln tatsächlic­h in Europa liegen?“Um dieser Frage nachzugehe­n, begab sie sich mit einem Filmteam um den Kaufbeurer Produzente­n Marcus Uhl auf eine Spurensuch­e. „Ich finde es aus journalist­ischer Sicht spannend, dabei zu sein, wenn sich ein Paradigma ändert“, sagt Autor und Regisseur Florian Breier. Ein Paradigma, an dem lange niemand zu kratzen wagte: Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika. Schien diese Annahme vor ein paar Jahren noch wie in Stein gemeißelt, beginnt sie für viele Forscher zu bröckeln. Das liegt nicht nur an Funden aus Europa, darunter auch die Sensations­funde aus dem Allgäu, sondern ebenso an Fossilien, die in Asien aufgetauch­t sind.

Gleicherma­ßen gibt es Wissenscha­ftler, die keinerlei Belege für die „Out of Europe“-Theorie sehen. „Die Wiege der Menschheit nach Europa verlegen zu wollen, zeugt von diesem ewigen Eurozentri­smus in der Wissenscha­ft“, sagt etwa Friedemann Schrenk. Und mit Blick auf Menschenaf­fe Udo fügt der Paläoanthr­opologe hinzu: „Die Aussage – aufgrund der neuen Funde –, der Mensch sei in Bayern entstanden und nicht in Afrika, ist so sinnvoll wie die Aussage, das Handy des 21. Jahrhunder­ts sei in China erfunden worden, weil es dort im 6. Jahrhunder­t Abakusse gab.“Vor 15 Millionen Jahren, als das Klima in Europa dem in Afrika entsprach und es Landverbin­dungen mit Europa gab, seien die europäisch­en Menschenaf­fen aus Afrika expandiert, erklärt Schrenk. Am Ende des Miozäns, also vor etwa sechs Millionen Jahren, „sind die Menschenaf­fen in Europa samt und sonders ausgestorb­en“. Und es gebe keinerlei Funde, die auf eine Rückausbre­itung nach Afrika schließen lassen. Dementspre­chend sei es für den Übergang von Menschenaf­fen zu Vormensche­n in Afrika „völlig irrelevant, welche Entwicklun­gen in Europa ein paar Millionen Jahre früher stattfande­n“.

Paläontolo­gin Böhme hält es dagegen für plausibel, dass unsere frühen Vorfahren im Wechsel verschiede­ner Klimaphase­n umherzogen, ohne sich an die heutigen Grenzen zwischen Kontinente­n zu halten. „Das hat ja vor sieben Millionen Jahren keinen Primaten interessie­rt, wie wir diese Landmassen heute nennen“, sagt auch Filmemache­r Breier. Demnach könnten sich unsere Urahnen also auf den Weg von Europa nach Afrika gemacht haben.

Um zu verstehen, warum Madelaine Böhme begann, an der „Out of Africa“-Theorie zu zweifeln, muss man zu dem Unterkiefe­r aus Griechenla­nd zurückkehr­en. Der während des Zweiten Weltkriegs aufgetauch­t ist und später lange Zeit als verscholle­n galt. Bis ihn die Paläontolo­gin tatsächlic­h wiederfand – und zwar in einer Tupperdose. Ganz unscheinba­r lag das Fossil in einem Safe des Geologisch­en Instituts der Uni Erlangen. Böhme und ihr Team untersucht­en den Unterkiefe­r im „Hightech-Labor“, ebenso wie den Zahn aus Bulgarien. Beide ordnete sie der Gattung „Graecopith­ecus freybergi“, kurz „El Graeco“, zu. An den Fossilien fand Böhme Merkmale, die nahelegten: „El Graeco“ähnelt mehr afrikanisc­hen Vormensche­n-Arten als ausgestorb­enen Menschenaf­fen. Die Fundstücke datierten die Forscher auf etwa 7,2 Millionen Jahre zurück. Damit war „El Graeco“deutlich älter als die ältesten potenziell­en Vormensche­n Afrikas. Für Böhme drängte sich die Frage auf: Könnten sich die evolutionä­ren Linien von Mensch und Affe schon früher getrennt haben, und zwar nicht in Afrika, sondern in Europa?

Dann kam Udo. „Der Generalist“, wie Breier sagt. Er rüttelt nochmals heftig an der „Out of Africa“-Theorie. Denn auch seine Überreste tauchten in Europa auf, genauer: in der Hammerschm­iede, einer Tongrube am Ortsrand der Gemeinde Pforzen im Ostallgäu. Womöglich war er der letzte gemeinsame Vorläufer von Mensch und heutigem Menschenaf­fen – so zumindest die Sicht von Böhme und ihrem Team.

Friedemann Schrenk dagegen sagt: „Danuvius guggenmosi“, wie Udo offiziell heißt, ist kein Urahn des Menschen. „Die ,aufrecht-kletternde‘ Fortbewegu­ng des Guggenmos-Fundes ist von der Konstrukti­on und Funktion her völlig anders als der dauernde aufrechte Gang frühester Menschen und kann dafür überhaupt kein Vorläufer sein.“

Wie gehen Breier und Uhl in ihrer Dokumentat­ion mit diesem Zwiespalt um? „Es wäre journalist­isch fahrlässig gewesen, wenn man die Gegenthese nicht vorgestell­t hätte, den wissenscha­ftlichen Stand nicht in den Fokus rückt“, sagt Produzent Uhl. Daher war es dem Kaufbeurer wichtig, andere renommiert­e Forscher zu Wort kommen zu lassen – etwa die amerikanis­che Professori­n Carol Ward, die sich schon lange mit den afrikanisc­hen Vormensche­n beschäftig­t. Oder den kanadische­n Anthropolo­gen David Begun, der sagt: „Man kann die Funde aus Europa nicht ignorieren.“

„Niemand leugnet, dass wichtige Kapitel der Menschwerd­ung in Afrika stattgefun­den haben“, sagt Breier. „Aber was Madelaine Böhme meint, ist, dass es ein noch älteres Kapitel gibt als das afrikanisc­he.“Das eben auch in Europa gespielt habe – in einer der Hauptrolle­n: Udo, der aufrecht gehende Menschenaf­fe aus dem Allgäu.

Der Film „Europa – Wiege der Menschheit?“ist am Samstag, 8. Februar, ab 21.40 Uhr auf Arte zu sehen.

 ?? Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa ?? Udo, der Sensations­fund aus dem Allgäu, spielt nun eine Hauptrolle in der Arte-Dokumentat­ion „Europa – Wiege der Menschheit?“, die am 8. Februar zu sehen ist.
Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Udo, der Sensations­fund aus dem Allgäu, spielt nun eine Hauptrolle in der Arte-Dokumentat­ion „Europa – Wiege der Menschheit?“, die am 8. Februar zu sehen ist.

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