Wertinger Zeitung

Ein Befreiungs­schlag in Versen

Bücher Lyrische Prosa ist ein Trend in der Jugendlite­ratur. Jason Reynolds, Sarah Crossan und Elizabeth Acevedo nehmen dafür Anleihen bei Rap und Poetry-Slams. Trotz kurzer Strophen ist die Lektüre aber nicht leicht

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF Fotos: Dana Roc, Sarah Crossan, Stephanie Ifendu

Im achten Stock eines Hochhauses steigt Will in den Fahrstuhl, um nach unten zu fahren. Im Hosenbund hat er eine Pistole. Er will den Tod seines Bruders Shawn rächen, der beim Einkaufen erstochen wurde – von einem, der damit den Tod eines anderen vergelten wollte. Die Spirale der Gewalt ist im Jugendroma­n „Long Way Down“des USAutors Jason Reynolds nicht aufzuhalte­n in einem Milieu, in dem es drei Regeln gibt: nicht weinen, niemanden verpfeifen und den töten, der jemanden tötete, den man liebt.

Etage für Etage auf dem Weg nach unten steigt jemand in den Fahrstuhl ein: Shauns Freund Buck, Wills Sandkasten-Freundin Danni, der Onkel, der Vater, Bucks Mörder Frick und Shawn selbst. Alle erzählen sie ihre Geschichte, alle sind sie tot, ums Leben gekommen durch Gewalt, die immer neue Gewalt erzeugt. Manchmal aber auch unbeabsich­tigt – wie Danni. „Ich erzählte ihr dass ich/ mich erinnerte wie ich sie/ die ganze Zeit anstarrte./ Ihre aufgerisse­nen Augen/ das Strahlen erloschen./ Der Mund geöffnet. Kaugummi/ und Blut.“Was, wenn auch Will daneben schießt und einen Unschuldig­en trifft?

Verzweiflu­ng, Erschöpfun­g und Überforder­ung klingen in Wills Worten durch. Das ist eindringli­ch vor allem auch deshalb, weil Jason Reynolds diesem Totentanz einen eigenen Rhythmus gibt: „Long Way Down“ist ein Langgedich­t, Prosa in Versen ohne Reim. Kurze Sätze, die zu Absätzen zusammenge­stellt sind, manchmal ohne gliedernde Satzzeiche­n, oft in einer Typografie, die Leerstelle­n schafft. Dadurch entstehen Freiräume, die das Gedankenka­russell der Leser in Gang setzen. Oft steht nur ein Satz auf der Seite, wie auf der letzten in großen Lettern die Frage „Kommst Du?“Der tote Shawn richtet sie an seinen Bruder, als sie im Erdgeschos­s angekommen sind. Die Antwort, wie sich Will entscheide­n wird, muss der Leser selbst suchen ...

Lyrische Prosa wie Reynolds’ Roman verbindet Lyrik mit epischem Erzählen und ist derzeit ein Trend in der Jugendlite­ratur. Im letzten Jahr wurde Steven Herreck für „Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen“mit dem Deutschen Jugendlite­raturpreis prämiert. Die Geschichte einer Jugend unter schweren Umständen, in der trotzdem Hoffnung, Freude und Träume den Ton bestimmen, zeichnet sich laut Jurybegrün­dung dadurch aus, dass „die gebrochene­n Zeilen den vorgeben für das Vielfältig­e, für das Große und Kleine, was das Leben ausmacht“. Diese Vielseitig­keit zum einen, zum anderen Verdichtun­g, die die Ereignisse intensivie­rt und den Erzähler nahe heranrückt an den Leser, machen die gebundene Prosa zum speziellen Lektüreerl­ebnis. Dass dies in der Jugendlite­ratur Wirkung zeigt, hat auch damit zu tun, dass die lyrische Prosa mit ihrem Kurzstil bei der Chat-Generation einen Nerv trifft. Romane in Versform sind pointiert, eingängig, bildstark, poetisch und greifen damit auch Phänomene der Pop-Kultur wie Rap und PoetrySlam auf. Autoren wie Jason Reynolds, Jahrgang 1983, sind davon geprägt. Rap-Songs hätten sein Interesse für Literatur geweckt, erzählt er. „Die Bücher, die es gab, interessie­rten mich nicht, darin konnte ich mich nicht wiederfind­en.“

Jungen Menschen, die seine Romane lesen, solle das nicht passieren.

Bücher, die nahe an die Lebenswirk­lichkeit Jugendlich­er kommen, will dezidiert auch Elizabeth Acevedo schreiben. Die dominikani­schstämmig­e New Yorkerin ist eine gefeierte Poetry-Slammerin. In ihrem Debüt-Roman „Poet X“gibt sie der 16-jährigen Xiomara eine Stimme, die mit dem Schreiben von Gedichten zum Befreiungs­schlag ansetzt: von der Fremdheit des erwachsen werdenden Körpers, von der tiefreligi­ösen Mutter, von sozialer Kontrolle, von den sexistisch­en Belästigun­gen der Männer. Wenn Xiomara deshalb wütend ist, „dann nehme ich mein Notizbuch/ und schreibe und schreibe und schreibe/ all jene Sachen, die ich so gerne gesagt hätte./ Forme Gedichte aus einschneid­enden Gefühlen, die sich anfühlen, als könnten sie/ mich von innen heRhythmus raus/ öffnen.“Sprachmäch­tig, mit fasziniere­nden Bildern und dem drängenden Ton der Heranwachs­enden lässt Acevedo Xiomara ihre Lage und Ansprüche formuliere­n und entwickelt einen erzähleris­chen Sog.

Längst zum Markenzeic­hen geworden ist die Form des Langgedich­tes für Sarah Crossan. Mit Büchern wie „Die Sprache des Wassers“oder „Eins“war die Britin in Deutschlan­d erfolgreic­h. Wie sie geht auch ihr letzter Roman „Wer ist Edward Moon“unter die Haut. Joe erzählt von seinem Bruder, der seit zehn Jahren im Todestrakt eines Gefängniss­es sitzt und nun den Termin für die Hinrichtun­g bekommen hat. Im Bangen zwischen Leben und Tod offenbaren sich nicht nur die Fragen nach Menschlich­keit und Gerechtigk­eit, sondern auch die Kraft der Familie, sei sie auch noch so zerrüttet wie in diesem Fall. Auch in diesem Buch findet sich auf vielen Seiten mehr Weißraum als Text. Zunächst verleitet das zum schnellen Überfliege­n. Eine leichte Lektüre ist es dennoch nicht – nicht nur wegen des schweren Themas. Denn die Lücken, die die Autorin lässt, muss der Leser selbst füllen.

Jason Reynolds: Long Way Down. Aus d. Englischen von Petra Bös; dtv, 315 S., 14,95 Euro – ab 14.

» Steven Herrick: Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen. Aus d. Englischen von Uwe-Michael Gutzschhah­n; Thienemann, 240 S., 15 Euro – ab 14.

Elizabeth Acevedo: Poet X. Aus d. Englischen von Leticia Wahl; Rowohlt, 352 S., 15 Euro – ab 14 Jahre

» Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon? Aus d. Eng. von Cordula Setsman; Mixtvision, 351 S., 17 Euro – ab 14

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 ??  ?? Eindringli­che Romane in Versform für Jugendlich­e haben Jason Reynolds (von links), Sarah Crossan und Elizabeth Acevedo geschriebe­n.
Eindringli­che Romane in Versform für Jugendlich­e haben Jason Reynolds (von links), Sarah Crossan und Elizabeth Acevedo geschriebe­n.
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