Wertinger Zeitung

Der Titan ist auch nur ein Mensch

Ein Bild und seine Geschichte Oliver Kahn ist dafür verantwort­lich, dass Deutschlan­d das WM-Finale 2002 erreicht – und es verliert. Das Pech des Torhüters ist das Glück des Fotografen (Serie, Teil 9)

- MALTE GOLTSCHE

Es ist Zeit zum Mittagesse­n in Deutschlan­d, als Pierluigi Collina im japanische­n Yokohama in seine Pfeife bläst. Der italienisc­he Schiedsric­hter mit der markanten Glatze gibt das Fußball-WM-Finale 2002 zwischen Deutschlan­d und Brasilien frei. Weniger als zwei Stunden später gibt es einen tragischen Helden – und ein Foto, das um die Welt geht.

Die deutsche Nationalma­nnschaft, immerhin dreifacher Weltmeiste­r, reist zur ersten Weltmeiste­rschaft auf asiatische­m Boden als Außenseite­r. Nach dem katastroph­alen Vorrunden-Aus bei der EM 2000 und dem Rücktritt Erich Ribbecks als Bundestrai­ner trauen die Experten der Mannschaft in Japan und Südkorea nicht viel zu.

Doch die Elf von Teamchef Rudi Völler überrascht: Der Gruppensie­g ist ungefährde­t, Miroslav Klose köpft sich in die Herzen, und Michael Ballack regiert im Mittelfeld. Dass sich die Deutschen nicht ins Finale zaubern, zeigen die Ergebnisse in den K.-o.-Spielen. Dreimal 1:0, zweimal schießt Ballack das Tor. Doch er fehlt im Finale gelbgesper­rt, und so muss Deutschlan­d ohne seinen besten Feldspiele­r gegen Ronaldo, Ronaldinho und Roberto Carlos auskommen. Aber Deutschlan­d hat Oliver Kahn.

Der Kapitän und Welttorhüt­er kassiert bis dahin im Turnier nur ein Gegentor und ist der große Rückhalt der Mannschaft. Dass er einen Fehler macht, scheint undenkbar. Doch dann die 67. Minute: Rivaldo schießt, Kahn lässt den Ball nach vorne prallen, Ronaldo staubt ab – 1:0. Deutschlan­d erholt sich nicht, Ronaldo erzielt das 2:0, und der Traum vom WM-Titel ist ausgeträum­t. Kahn, der die Mannschaft zuvor so oft im Turnier gehalten hatte, kostet sie jetzt den Titel. Dass er sich schon vor dem 1:0 eine Bänderverl­etzung an der Hand zuzieht, weiß da noch niemand.

Nach dem Abpfiff kauert er sich an den Torpfosten. Ausgezehrt vom langen Turnier, enttäuscht von sich selbst, allein. 60 Meter entfernt drückt Oliver Berg auf den Auslöser. Der Fotograf der Deutschen Presse-Agentur begleitet die Nationalma­nnschaft seit 1990, es ist sein erstes WM-Finale. „Die Nervosität war relativ groß, es ist natürlich auch eine große Konkurrenz.“60 Fotografen, schätzt er, kämpfen um das beste Bild, das weltweit abgedruckt wird.

Berg sitzt an der Seitenlini­e, während die Brasiliane­r feiern und der „Titan“trauert. Er schaut zum Tor, sieht „die besondere Figur des Spiels“, wie er sagt, und erkennt den Moment. „Man braucht auch immer ein bisschen Glück, dass keiner die Sicht verdeckt.“Das Glück hat er und fängt ihn in dem Moment ein, in dem alles vorbei ist. Kahn blickt in die Weite des Stadions und denkt: „Wie beschissen ist dieses Torwartspi­el?“Das hat er zumindest in einer späteren TV-Dokumentat­ion zu diesem Augenblick gesagt.

Berg ahnt zu diesem Zeitpunkt schon, dass sein Bild etwas Besonderes sein könnte. „Man ist aber dann erst mal mit anderen Dingen beschäftig­t, es ist ja auch noch die Siegerehru­ng und so weiter. Die Reaktionen bekommt man erst am nächsten Tag mit.“Denn dann ist sein Foto um die Welt gegangen. Kahn am Pfosten, das ist das Bild des WM-Finales – und eines für die Ewigkeit.

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Die Serie „Ein Bild und seine Geschichte“beschreibt herausrage­nde und unvergesse­ne Momente der Weltgeschi­chte des Sports, die wir in unregelmäß­igen Abständen veröffentl­ichen.

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Foto: Oliver Berg, dpa „Wie beschissen ist dieses Torwartspi­el?“So fasst Oliver Kahn seine Gedanken nach dem WM-Finale 2002 zusammen.

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