„Literatur ist ein Frühwarnsystem“
Das Interview Kritiker Denis Scheck über seinen Kanon, zeitgemäße Autoren und warum in der Literatur Political Correctness nichts verloren hat
Wann hat Literatur zuletzt eine Debatte außerhalb des Feuilletons ausgelöst?
Denis Scheck: Ich glaube, dass alle großen Diskurse der letzten 20 oder 30 Jahre letzten Endes von der Literatur angestoßene Diskurse waren. Denken wir an die Auseinandersetzung um Günter Grass’ „Was gesagt werden muss“oder an das Gedicht von Böhmermann über Erdogan. Denken wir an die Aufregung um das Gedicht „Artikel 3 (3)“von Alfred Andersch in den 70er Jahren oder an Botho Strauß, an die Auseinandersetzung mit rechter Intelligenz in Deutschland. Was die Fähigkeit der Literatur zur Intervention im gesamtgesellschaftlichen Diskurs angeht, ist mir nicht bange. Literatur ist auch heute ein Frühwarnsystem. Es gibt die seismologische Fähigkeit von Dichtern, einen Zeitgeist auf den Punkt zu bringen.
Kanzlerin Angela Merkel hat 2019 zwei Emil-Nolde-Bilder in ihrem Büro abgehängt. Auch Autorinnen und Autoren geraten aufgrund fragwürdiger Ideale oder politischen Ideen in die Kritik. Wie gehen Sie damit um? Scheck: Ich habe aus der Literatur gelernt, dass wir Ambiguitäten aushalten müssen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was uns Literatur beibringen kann. Dass wir aufhören, in Schwarz und Weiß zu denken, dass wir die Graustufen wahrnehmen. Dass wir realisieren, dass man ein glühender Nazi und ein guter Künstler sein kann, wie Emil Nolde beispielsweise. Dass man Antisemit sein kann wie der späte Theodor Fontane und gleichzeitig mit dem „Stechlin“Weltliteratur schreiben kann. Mao Tse-tung war nach allem, was ich weiß, ein guter Dichter – und verantwortlich für Millionen Tote. Wer das nicht aushält, wer dem Kinderglauben anhängt, dass nur reine Seelen große Kunst hervorbringen können, der ist, glaube ich, für die Kunst verloren.
Braucht es keine Konsequenzen, wenn ein Künstler in der Nähe von demokratiefeindlichen Idealen steht? Scheck: In einer politischen Debatte unbedingt. Nur möchte ich davor warnen, die politische Konsequenz auf den Raum der Ästhetik zu übertragen. Die Arbeit an meinem Kanon hat mich gelehrt, dass die Literaturgeschichte eine Ansammlung von Gaunern, Verbrechern, Psychopathen, Hurenböcken und Schwindlern ist, Menschen, die ihren Eltern, Lebenspartnern und Kindern Unsägliches angetan und dennoch
Weltliteratur geschrieben haben. Ich habe keine Ahnung, mit wem Sappho ins Bett ging und wie oft – es interessiert mich auch nicht sonderlich. Mich interessieren die Texte.
Also, zum Teufel mit der Political Correctness?
Scheck: In der Literatur möchte ich darum bitten. In der Arena der Politik würde ich übrigens gar nicht sagen, dass ich etwas gegen politische Korrektheit habe. Die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte haben dazu geführt, dass wir die Hälfte der Menschheit neu entdeckt haben, indem wir realisierten: Es gibt auch Frauen, und es wäre eine gute Idee, wenn wir Frauen Wahlrecht einräumen, Berufsfreiheit und, und, und. Dann haben wir realisiert, dass Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion ebenfalls die gleichen Rechte haben sollten. Ich halte die Erklärung der Menschenrechte für eine wunderbare Sache. Wenn wir das unter politischer Korrektheit verstehen, dann habe ich dagegen gar nichts.
Wann stört Sie Political Correctness?
Scheck: Wenn wir darunter verstehen, dass man aus den Klassikern der Kinderund Jugendbuchliteratur etwa von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler Wörter entfernt, die uns in heutigen Ohren aus guten Gründen anstößig klingen. Ich rede jetzt von Begriffen wie „Zigeuner“oder „Neger“, die nur Tölpel heute noch verwenden, die keinerlei sprachliche Sensitivität besitzen. Das sind aber Begriffe, die in vergangenen Zeiten alltäglich waren. Da es sich bei den Werken Lindgrens und Preußlers um Kunstwerke handelt, dürfen wir nicht einfach Wörter schwärzen oder durch weniger anstößige ersetzen – das läuft auf das Gleiche hinaus, wie wenn man mit einem Farbeimer ins Museum stiefelt und Genitalien übermalt. Das ist barbarisch.
Was schlagen Sie stattdessen vor? Scheck: Entweder halten wir diese Texte aus, lassen sie in ihrer historischen Gestalt, machen vielleicht eine Anmerkung oder ein Nachwort.