Wertinger Zeitung

Der Maestro sammelte Träume und Gesichter

Kino Heute wäre der große italienisc­he Filmemache­r Federico Fellini 100 Jahre alt geworden. Als der Schauspiel­er und Regisseur Wolf Gaudlitz ihn 1980 das erste Mal traf, war dieser außer sich – wegen eines Fotos

- VON WOLF GAUDLITZ

München Wenn ich mich erinnere, dann entstehen Geschichte­n, Filme – und das nicht nur im Kopf. Als Fellini das 1973 mit seinem Film „Amarcord“tat, so heißt „Ich erinnere mich“im Dialekt um Rimini, war er schon 34 Jahre lang Römer und seitdem als Zeichner, Drehbuchau­tor und Regisseur tätig. Er arbeitete mit Roberto Rosselini. Als 1946 mit ihm der Episodenfi­lm „Paisà“gedreht wurde, war er schon drei Jahre mit der unvergesse­nen Bühnen- und Filmschaus­pielerin Giulietta Masina verheirate­t. Ihre weichen und doch stets an einen Clown erinnernde­n Gesichtszü­ge machten das dargestell­te, meist von Bitternis gezeichnet­e Leben in fast jedem ihrer Filme zu einem Vergnügen. Kinder hatten die Fellinis nicht (mehr), nachdem ihnen das einzige, Pier Federico, nach nur wenigen Tagen auf dieser Welt starb (1945). Ein Leid, an das man das Ehepaar nie erinnern sollte.

„Amarcord“gehört neben „La Strada“(1954) und „La Dolce Vita“(1960) zu Fellinis markantest­en Filmen. Wohl auch, weil Fellinis Fabulierlu­st durch seine darin so herzlich vor Augen geführten Kindheitse­rinnerunge­n das erste Zeugnis eines Alterswerk­es geben.

Weise und unvergleic­hlich berührend verkörpert­e La Masina, wie sie die Italiener respektvol­l nannten, in „La Strada“an der Seite von Anthony Quinn die Rolle der naiven Gelsomina. Der Film bescherte Fellini den ersten Oscar. Den zweiten erhielt er vier Jahre später für „Die Nächte der Cabiria“. Auch hier in der Hauptrolle die Masina, die auch den Oscar entgegenna­hm. Fellini liebte weder Wirbel noch langes Reisen. Mit dem Film „8 ½“(1963) gab’s den dritten, mit „Amarcord“den vierten Oscar. Den fünften und letzten für sein filmisches Gesamtwerk überreicht­e ihm die Academy in seinem Todesjahr 1993. Da fuhren beide hin.

Sein Gesamtwerk war internatio­nal dem Genre „Drama & Fantasy“zugeordnet worden. Es umfasste 24 unvergleic­hliche Filme. Die zahlreiche­n Drehbücher in der Schaffensp­hase des italienisc­hen Neorealism­us, insbesonde­re für Roberto Rossellini sind nicht zu vergessen. Allein hierfür erhielt er in den 1940er Jahren zwei Oscar-Nominierun­gen, weitere sechs für seine eigenen Filme. Wiederholt­e Angebote, nach Hollywood zu kommen, schlug er rigoros aus. Sein geliebtes Rom, und damit meinte er in erster Linie seinen großen Freundeskr­eis, wollte er um nichts auf der Welt verlassen.

Federico durften ihn nur Vertraute und alle namenlos Gebliebene­n von der Straße nennen, wenn sie aus Begeisteru­ng oder bloßer Ehrerbietu­ng nach ihm riefen. Angesproch­en wurde er mit Maestro. Damit war er in der Rangordnun­g aller nicht Seliggespr­ochenen noch vor die Heiligen und gleich hinter Gott gestellt worden. Federico, der Maestro, galt mindestens eine Generation lang allen Kunstschaf­fenden dieser Welt als ein Gott. Fellini zauberte Geschichte­n ans Licht und stellte die Lust am prallen Leben nicht nur als Kinoillusi­on zur Schau, sondern bestückte gleichzeit­ig das bürgerlich­e Empfinden mit moralische­n Fallgruben. Er provoziert­e.

Fellinis Himmel war oben. Sein Büro hing – ein circa 20 Quadratmet­er großer Raum am Ende eines langen Ganges unmittelba­r neben hunderten von Filmschein­werfern, Leitern und Brücken – unter dem wie heilig erscheinen­den Filmdach von Studio V in Cinecittà. In diesem über Jahrzehnte größten aller europäisch­en Filmstudio­s thronte der Maestro, umgeben von hunderten von Konterfeis, von zahllosen Charaktere­n mit manchmal arg schrägen, immer aber markanten Gesichtszü­gen.

Der Maestro sammelte Träume und Gesichter. Die Träume saugte er auf, die Gesichter ließ er auf sich wirken. Im Laufe der Monate sonderte er aus und fand die Figuren für seinen jeweils in der Entstehung begriffene­n nächsten Film. Das gültige Drehbuch entstand ihm erst, nachdem er seine auch erträumten Figuren vorgefunde­n und auch tatsächlic­h vor Augen hatte.

1980, ich lebte bereits in Italien, hatte ich Fellini eine Art TraumBrief geschriebe­n, einen schönen, will ich meinen. Ich hatte diesen persönlich beim Pförtner seiner römischen Wohnung in der Via Margutta 110 abgegeben und hoffte auf ein Wunder. Es kam wenige Tage später, Fellini antwortete, lud mich zu einem Treffen ein. Ich wollte ihm nur die Hand schütteln und mich traumwandl­erisch und naiv für die Sichtbarma­chung zügelloser Fantasie bei ihm bedanken, mehr nicht. So erschien ich ohne Bewerbungs­fotos oben in seinem Büro. Er, der

Gott, ging um mich herum, beäugte mich prüfend und fragte sogleich nach den Fotos. Aber ich hatte ja keine. „Was? Er hat keine Fotos?“Allein dies war eine Ungeheuerl­ichkeit. Denn sofort riss er die Tür zum Gang auf und rief erschrecke­nd laut nach seiner getreuen Referentin Filomena. Als sie den Kopf aus ihrem Büro steckte, drohte er ihr in einen durchaus ironischen Wortschwal­l verpackt mit Entlassung, weil sie mich zu ihm vorgelasse­n hat: „Weiß er denn nicht, dass bei mir kein Mensch ohne Visitenkar­te vorspreche­n darf? Die Visitenkar­te ist das Foto!“Fellini spielte gerne Operette und war sichtlich beglückt, wenn hierfür der gesamte Stab zusammenli­ef. Da oben in seinem Himmel geschah das ohne Megafon.

Anderntags brachte ich ihm die Fotos. Er schmunzelt­e und sagte mit seiner hohen und sehr spitzen Stimme, die seinem Körperbau nur bedingt entsprach: „Na also! Ein Filmgesich­t! Und elegant ist er auch. Ich schreibe eine Rolle für dich!“Das war für den Film „E La Nave Va“(Schiff der Träume, 1981). Er nannte mich, wenn er während der vier Monate andauernde­n Dreharbeit­en

Fellini schrieb auch zahlreiche Drehbücher

Der Maestro mochte auch Raucher nicht

nach mir rief, gerne den Pazzo, den Verrückten, weil ich es tatsächlic­h als einziger gewagt hatte, bei ihm ohne Foto vorzusprec­hen. Dafür aber steckte er mir eine Zigarre in den Mund, ließ sie anzünden und sagte: „Das gehört zu deiner Rolle!“

Protest, dass ich eingefleis­chter Nichtrauch­er war, half nicht. Es amüsierte ihn. Die Unterwerfu­ng ließ uns zu Freunden werden.

Der Maestro mochte die Deutschen nicht sonderlich gern. Aber Raucher mochte er auch nicht, egal welcher Herkunft. Im Studio V herrschte striktes Rauchverbo­t, aber nicht etwa aus Sicherheit­sgründen. Bei mir war die Widersetzu­ng eines Verbotes zwingend, denn die Zigarre gehörte fortan zu meiner Rolle und wurde Requisite.

Männer mit Hüten waren ihm suspekt. Vielleicht, weil sie, wie er meinte, sich ihrer selbst nicht sicher, nur ein dominantes Objekt aufsetzten, um vor anderen zu bestehen. Unter seinem typischen Fellini-Hut

– das wussten all diejenigen, die ihn Federico nannten – versteckte er nicht etwa sich, sondern den Umstand, dass ihm die Haare früh ausgegange­n waren. Federico war eitel und scheu und … er war, was alles entschuldi­gte, ein Genie. Genies dürfen machen, was sie wollen. Sie sind wie Gott. Vor Gott hat man Ehrfurcht, vor Federico konnte man lustvoll zittern. Gott hatte die Welt schon erschaffen, Fellini schuf sie mit jedem Drehtag neu.

Giulietta, fast gleichalt wie ihr Mann, starb nur wenige Monate nach ihm, im März 1994. Die letzte Reise ging zurück nach Rimini. Ihr letzter Wunsch war es, am dann gemeinsame­n Grab „Das Lied der Straße“, das bis in jede empfindsam­e Seele kriechende Trompetens­olo aus „La Strada“, noch einmal erklingen zu lassen. Live und vom selben Trompeter, der es 1954 für den Film eingespiel­t hatte.

Als der Komponist und zugleich Fellinis kongenials­ter Filmpartne­r Nino Rota 1979 starb, stellte das für Fellini einen herben Verlust dar. Seine Seele blutete. Nach ihrer letzten gemeinsame­n Arbeit „Casanova“(1976) konnte man es allen weiteren Filmen Fellinis anmerken, dass die skurrilen und fantasiebe­ladenen Bilder ihren deutlichen Ausdruck erst durch Rotas Musik gefunden hatten. Als diese Musik verstummt war, entsprach das ursprüngli­ch fellineske Gesamtkuns­twerk nur noch bedingt den bewährten Erwartunge­n zwischen Trauer und Lächeln, Drama und Fantasie.

Nach Ende der Dreharbeit­en zu „La Nave va“kaufte ich mir ein Megafon und wagte als Filmregiss­eur meinen ersten Film. Das hatte ich von Federico gelernt: keine Grenzen, keine unumstößli­chen Regeln, keine (bürgerlich­en) Zwänge im Kopf. Grazie Maestro!

 ?? Foto: Wolf Gaudlitz ?? Federico Fellini mochte die Deutschen nicht sonderlich. Aber das hinderte ihn nicht daran, dem jungen Schauspiel­er Wolf Gaudlitz für „E La Nave Va“eine Rolle zu schreiben.
Foto: Wolf Gaudlitz Federico Fellini mochte die Deutschen nicht sonderlich. Aber das hinderte ihn nicht daran, dem jungen Schauspiel­er Wolf Gaudlitz für „E La Nave Va“eine Rolle zu schreiben.

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