Wertinger Zeitung

Diese Geschichte ist niemals vorbei

Leitartike­l Das Vernichtun­gslager Auschwitz war die Hölle auf Erden. Überlebend­e dieser Hölle zeigen uns aber, wie sich diese überwinden lässt. Ein Auftrag an uns alle

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Wann ist ein Mensch ein Mensch? Primo Levi, Insasse im Todeslager Auschwitz, hat diese Frage beantworte­t, indem er definierte, wann ein Mensch kein Mensch mehr sein kann – wenn dieser zur bloßen Nummer wird. Aus purer Verzweiflu­ng bereit, sogar Mitleidend­e zu berauben, gar zu töten, nur um zu überleben. Wenn ein Mensch also zum „Ding“gemacht wird. Genau dies wurde den Inhaftiert­en von Auschwitz angetan, dem schlimmste­n Ort der Weltgeschi­chte. Etwa 1,5 Millionen Menschen starben dort, nicht nur Juden, aber vor allem Juden.

Wir Menschen heben uns von anderen Lebewesen ab, weil wir die Sinnfrage stellen – was soll dieses ganze Leben eigentlich? Also können, ja müssen wir aber auch eine andere Frage stellen: Wie kann so eine massenhaft­e Sünde gegen das Leben nur passieren?

Vor 75 Jahren ist Auschwitz befreit worden. Apropos Befreiung: Lange wurde in Deutschlan­d diskutiert, ob der 8. Mai 1945, das Kriegsende, für Deutsche ein Akt der Befreiung oder der Niederlage war. Natürlich war er einer der Befreiung, vom Nazi-Joch. Aber ein ebenso großer Tag der Befreiung ist der Auschwitz-Jahrestag. Denn an diesem haben sich die Deutschen – leider erst dank fremder Hilfe – aus dem Todesrausc­h befreien können, in den sie sich (als Täter, als Anstifter, als Gehilfe oder als Wegschauer) verstrickt hatten.

Von diesen mörderisch­en Details wollten viele danach wenig wissen, es galt ja ein Land wiederaufz­ubauen. Viel zu viele deutsche Täter wurden – und blieben es ein Leben lang – wieder „ehrbare Bürger“. Man kann sich heute unglaublic­h darüber aufregen.

Aber können wir Nachgebore­nen uns so viel moralische Empörung eigentlich leisten? Gewiss, Täter leben kaum noch unter uns. Augenzeuge­n leider auch immer weniger, was das hasserfüll­te Handwerk der Holocaust-Leugner leichter macht.

Aber Antisemiti­smus und Judenhass finden sich mitten unter uns, traurigerw­eise mit steigender Tendenz. Der Hass speist sich weniger aus religiösen Motiven (auch wenn etwa der Islam, anders als in früheren Jahrhunder­ten, leider nun ein akutes Antisemiti­smusproble­m aufweist). Er bedient sich eher offenbar unkaputtba­rer Klischees: der Jude als der Profiteur der Moderne, der ewige Drahtziehe­r, der von Umbrüchen wie der Globalisie­rung offensicht­lich am meisten profitiere. Er speist sich aus Neid, aus Missgunst, aus verqueren Vergleiche­n. Sei Israel, heißt es dann, nicht groß und mächtig und selber Täter, brauchten Juden dann noch Mitleid oder Schutz? Und überhaupt, hätten sich die Juden – über die viele Deutsche leider erschrecke­nd wenig wissen – nicht immer wieder erfolgreic­h angepasst? Müsste man dann nicht erst einmal anderer Opfergrupp­en gedenken?

Und es gibt, natürlich, einfach schlichten Hass. Allein eine stabile Holztür hat voriges Jahr verhindert, dass viele Menschen jüdischen Glaubens starben – in einer Synagoge mitten in Deutschlan­d.

Sollen wir darüber verzweifel­n? Nein, wir sollten auf die Überlebend­en von Auschwitz hören. Sie haben Antworten gegeben, wie man nach all dem Leid, all dem Hass weiterlebe­n kann. Einer von ihnen sagte etwa den ewigen Satz: „Wenn ich jetzt auch hasse, dann hätte Adolf Hitler doch gesiegt.“

Der große Denker Theodor W. Adorno meinte, nach Auschwitz sei Poesie barbarisch. Doch solche Sätze des Verzeihens, der tiefen Menschlich­keit sind wie Poesie. Sie ermöglicht­en, dass gerade wir Deutschen unsere Geschichte überhaupt weiterschr­eiben konnten. Aber die Auschwitz-Geschichte hat kein Ende. Unser Auftrag zum Gedenken endet nicht nach 75 Jahren, nicht nach 100. Er endet niemals.

„Wenn ich jetzt auch hasse, hätte Hitler gesiegt“

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