Wertinger Zeitung

Häftlingsn­ummer 47628

Titel-Thema Anna Szalasna hat Auschwitz überlebt. Heute ist die Polin 93, kann stundenlan­g über die deutschen Täter reden und mag das Wort „Befreiung“nicht. Und: Sie vergöttert ihre zwei jungen Helferinne­n. Sie kommen aus Deutschlan­d

- VON ULRICH KRÖKEL

Warschau Moment, Moment. Erst einmal muss Luft herein. Bevor sich Anna Szalasna ihrem Besuch zuwendet, angelt sie mit ihrem Stock nach dem Erkerfenst­er, das in zwei Meter Höhe kaum zu erreichen ist. Jedenfalls nicht aus dem Rollstuhl, in dem sie sitzt. Sie ist jetzt 93 Jahre alt. Seit 80 Jahren fehlt das linke Bein.

Aber so ein Stock kann ja manchmal Wunder vollbringe­n. Er lockt sogar frische Winterluft in die enge kleine Wohnung am Rande der Warschauer Altstadt, in der Pani Anna, wie sie gern genannt werden möchte, seit Jahrzehnte­n lebt. Wenn Frau Anna keinen Besuch empfängt, ist sie dort allein mit ihren Büchern, den Briefbögen und dem Festnetzte­lefon. Und mit ihren Erinnerung­en. An den Krieg. An Auschwitz. Aber auch an ein Leben davor und danach.

Es beginnt ja alles ganz harmlos mit einem kleinen Mädchen, das am liebsten Klavier spielt. Anna wächst in Galizien auf, im Südosten Polens. Der Vater arbeitet bei der Eisenbahn. Der Lieblingsb­ruder spielt Geige. Anna, die Pianistin, schafft mit zwölf die Aufnahme ins Konservato­rium. Die Mutter ist stolz, der zweite Bruder auch. Das ist im Juni 1939. Da ist die Familie gerade nach Torun umgezogen, nicht weit von der deutschen Grenze, und nun liegt plötzlich Krieg in der Luft. Angst?

Pani Anna versteht die Frage nicht. Bei der Wiederholu­ng winkt sie ab. „Nein, nein. Es war natürlich nicht zum Lachen, aber Angst hatte ich nie in meinem Leben.“Auch im Zug nach Warschau nicht, auf der

Flucht im September, als schon Bomben fallen. Auf Kutno zum Beispiel, wo „alles nur noch schwarz war, zerstört, verbrannt“.

Immer wieder bleibt der Zug auf offener Strecke stehen. Am 9. September gerät er unter Beschuss. „Irgendjema­nd schreit: Es brennt. Also raus. Ich springe auf diese spitzen Steine am Gleis.“Aber der Schotter kann es kaum sein, der Anna die Beine wegschlägt. „Ich sehe nach unten, und links ist nur noch etwas wie roher Teig.“Eine Kugel hat Haut, Adern und Muskeln aufgerisse­n. Der Vater bringt die Tochter in Sicherheit. Die Familie schafft es nach Warschau, aber 100 Menschen sterben im Zug. Pani Anna nennt es „blanken Irrsinn“. Denn es sind polnische Soldaten, die auf Deutsche zu schießen glauben – und ihre Landsleute töten.

Im Krankenhau­s quält sich Anna wochenlang, weil die Wunde nicht heilen will. „Eines Nachts höre ich im Schlaf eine Stimme: Dreh dich um. Und dann greift eine Hand unter mich und dreht mich um. Dabei merke ich, dass alles nass ist. Ich wache auf: Blut. Überall ist Blut. Ohne die Stimme wäre ich im Schlaf gestorben.“Die Mutter bringt ein

Heiligenbi­ld ans Krankenbet­t. Aber es hilft alles nichts. Es ist wieder der Vater, der Annas Leben rettet. Auf Kosten des linken Beins. „Er hat die Amputation verlangt.“Als sie nach der Operation erwacht, ist alles anders. Aber nicht, weil das Bein fehlt. „Ich hatte Hunger. Verstehen Sie? Ich war am Leben.“

Pani Anna rückt beim Erzählen ganz nah an ihren Besuch heran. Immer wieder bewegt sie den Rollstuhl zurück, als wolle sie ausholen, um dann nach vorn zu rollen, bis es nicht weitergeht. Bis zur Berührung. Dabei beugt sie den Kopf vor und neigt ihn zur Seite, weil sie rechts kaum etwas sieht. Das linke Auge aber scheint mit seiner hellgrünen Iris in die Zuhörer hineinzukr­iechen; im Wechsel, denn an diesem Januarmorg­en sind gleich drei Deutsche zu Gast in der kleinen Wohnung.

Der Journalist fragt nur und hört zu. Juliane Smykalla, 20, aus Ventschau in Niedersach­sen und Ruth Dahlhoff, 18, aus Essen dagegen sind hier, um zu helfen. Sie leisten nach dem Abitur einen Friedensdi­enst bei der Stiftung für DeutschPol­nische Aussöhnung, ein Freiwillig­enjahr, vermittelt von der Aktion Sühnezeich­en. Die jungen Frauen kommen regelmäßig zu Pani Anna, mit der sie „extrem gern reden“, wie Juliane sagt. „Weil sie einfach großartig ist“, ergänzt Ruth. Die ganze Geschichte aber kennen sie noch nicht, denn beim Helfen stehen die Nöte der Gegenwart im Mittelpunk­t.

Von Auschwitz wissen sie natürlich. Sie waren selbst in der KZ-Gedenkstät­te. Pani Annas unmittelba­re Zeugenscha­ft ist aber noch einmal etwas anderes. Da ist etwa die 93-jährige Stimme, die beim stundenlan­gen Erzählen erstaunlic­h fest bleibt, sogar schrill klingen kann. Vor allem wenn sie auf Deutsch die Täter nachahmt. „Ausziehen, ausziehen. Weiter. Alles ausziehen.“Es ist fast ein Kreischen, auf Zimmerlaut­stärke reduziert.

Die ersten Stunden im Vernichtun­gslager hinterlass­en vielleicht die tiefsten Spuren. Hunderte, tausende Menschen, eingepferc­ht in eine Baracke. Wehklagen und Schreie, in Sprachen aus aller Herren Länder. „Als wir nackt waren, mussten wir uns rasieren. Überall. Auf dem Kopf, unter den Achseln, die Scham. Diese absolute Nacktheit verändert einen Menschen.“

Pani Anna schiebt die schütteren Haare zurück, um eine kahle Kopfhaut zu simulieren. Auf dem linken Unterarm wird die Häftlingsn­ummer sichtbar. 47628. Sie zeigt die Nummer her und streicht mit einer Fingerkupp­e darüber. Seit bald 77 Jahren gibt es die Tätowierun­g. Seit dem Sommer 1943.

Anna ist 16, als sie an der falschen

Stelle einen richtigen Satz schreibt: „Das Wichtigste ist, dass der Moment der Befreiung naht.“Die Worte stehen in einem Brief an den geliebten Bruder, den Geiger, den die Deutschen in ein KZ im Westen deportiert haben. Dem Vater ist es nach Annas Amputation gelungen, der Familie ein erträglich­es Leben im ländlichen Südostpole­n aufzubauen. Doch die Besatzer sind allgegenwä­rtig. Die Gestapo fängt Annas Brief ab. Sie wird verhaftet, bewusstlos geschlagen und in einen Güterzug nach Auschwitz verfrachte­t. Die Prothese am Bein ist kein mildernder Umstand.

Im Gegenteil. Die Behinderun­g verringert die „Arbeitsver­wendungsfä­higkeit“und damit die Überlebens­chancen. Aber es gibt Menschen in Auschwitz, die Anna helfen. Pani Monika aus Posen zum Beispiel, die in der Schreibstu­be arbeitet und irgendeine­n Einfluss hat. „Sie hat vielen von uns das Leben gerettet, auch mir.“Anna kommt erst einmal auf die Krankensta­tion. Dass sie keine Angst vor dem Tod hat und leben will, auch das hilft in Auschwitz. Allerdings bei Weitem nicht jedem. Es gibt auch die Hoffnungsl­osen, vor allem unter der überwältig­enden Mehrheit der jüdischen Häftlinge, denen nichts und niemand helfen kann.

Das Grauen beginnt mit fernen metallisch­en Klopfschlä­gen in der

Nacht. „Wir haben erst spät begriffen, dass die Deutschen Gleise bis ins Lager verlegt haben.“Da hat die SS bereits die „Ungarn-Aktion“begonnen, die Deportatio­n einer halben Million südosteuro­päischer Juden nach Auschwitz. „Zwei Monate lang kam jeden zweiten Tag ein Güterzug an, vollgestop­ft mit Menschen.“Menschen, die sofort vergast werden. Als die Kapazität der Krematorie­n nicht mehr ausreicht, müssen die Häftlinge riesige Gruben ausheben.

„O Jesus Maria“, sagt Pani Anna. Dann schweigt sie eine Weile und schüttelt den Kopf, wohl über den „fürchterli­chen Anblick der Feuer“, von dem sie schließlic­h doch noch berichtet. „Den Geruch von verbrannte­m Menschenfl­eisch werde ich immer in der Nase behalten.“

So wie sie auch die Stimmen der SS-Männer im Ohr behalten wird, die zu Weihnachte­n in Auschwitz singen. Ein hundertfac­her Chor. „Stille Nacht, heilige Nacht“, singt Pani Anna, nun wieder auf Deutsch und mit schriller Stimme, die dem Journalist­en durch Mark und Bein fährt, der gekommen ist, um mit einer Überlebend­en über Auschwitz zu sprechen – und doch nicht vorbereite­t ist auf diese Art der Erzählung. Zwischendu­rch fällt der Blick auf einen Kalender mit Porträts des polnischen Papstes Johannes Paul II.

Die Frage liegt nah: Hat sich Pani

Anna ihren Glauben in Auschwitz bewahren können? „Ich habe gebetet, für meine Eltern.“Sie zögert, klopft sich mit drei Fingern auf die Brust. „Irgendeine Kraft war da. Tief im Innern.“Im Übrigen zieht es jetzt doch ganz schön. Juliane und Ruth helfen, das Erkerfenst­er zu schließen, während Pani Anna gedanklich schon im KZ Ravensbrüc­k ist. Im August 1944, als die Sowjetarme­e vorrückt, sollen Häftlinge aus Auschwitz dorthin verlegt werden. „Was werden die Deutschen wohl mit uns machen, wenn die Russen kommen?“, fragt Anna ihre Lagerfreun­dinnen. Sie schaffen es in den Transport nach Ravensbrüc­k. „Es war unsere Rettung.“

Auschwitz nämlich sei in Wirklichke­it niemals befreit worden. Die alte Frau wird laut: „Was soll das für eine Befreiung gewesen sein? Die Deutschen haben im Winter ’45 zehntausen­de halb nackte, halb verhungert­e Menschen aus dem Lager getrieben, mit Hunden und vorgehalte­nen Waffen. Ein paar tausend haben überlebt. Ich kann das Wort Befreiung nicht ertragen.“

Es ist jenes Wort, das die junge Anna 1943 an den geliebten Bruder geschriebe­n hatte, damals voller Sehnsucht. Doch als für die 18-Jährige dann der Moment der Befreiung naht, ist alles anders. Im Frühjahr 1945 handelt das schwedisch­e Rote Kreuz mit der SS eine humanitäre Rettung aus. Die Tore in Ravensbrüc­k öffnen sich. „Aus vielen Baracken haben wir aber nur noch Stöhnen gehört. Da lagen die Sterbenden.“Anna jedoch hält durch und wird ausgeschif­ft. In Malmö gibt es Duschen, Getränke, Essen.

Ruth sagt: Sie ist einfach großartig

Schweden war die Rettung. Es war wie im Himmel

Nach der Hölle ist es dort „wie im Himmel“.

Und im Himmel schmeckt die Freiheit süß. Buchstäbli­ch. Das erste Essen ist eine Süßspeise. „Na gut, dachten wir, da müssen wir durch.“Doch am zweiten Tag gibt es Würstchen, die auch süß schmecken. „Am dritten Tag haben sie uns süßen Hering serviert.“Pani Anna lacht. „Die Schweden essen einfach alles süß. Grauenhaft.“

Bald darauf darf sie selbst kochen, ein „echtes polnisches Essen, herzhaft und deftig“. Ein gutes Jahr dauert es noch, bis sie in der Heimat ihre Familie in die Arme schließen kann. Dann beginnt eine neue Zeit, ein zweites, reiches Leben als Kunsthisto­rikerin an der Akademie der Wissenscha­ften in Warschau.

Aber was bleibt vom ersten Leben? Den Tätern hat Pani Anna längst verziehen. „Wer nicht verzeihen kann, behält alles bei sich.“Damit quäle man sich nur selbst. Sie pflegt lieber ihre Freundscha­ften in aller Welt, persönlich, per Brief oder Telefon.

Und Juliane und Ruth, die jungen Frauen aus Deutschlan­d, die liebt sie. Das kann sie nicht verbergen – und will es wohl auch gar nicht.

 ?? Foto: Ulrich Krökel ?? Anna Szalasna mit den beiden jungen deutschen Helferinne­n Ruth Dahlhoff (links) und Juliane Smykalla.
Foto: Ulrich Krökel Anna Szalasna mit den beiden jungen deutschen Helferinne­n Ruth Dahlhoff (links) und Juliane Smykalla.

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