Wertinger Zeitung

Pflegenots­tand spitzt sich zu

Kongress Immer mehr Menschen werden Hilfe brauchen. Aber es gibt zu wenige, die die Arbeit machen wollen. Geld allein wird nicht reichen

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Die Zahlen sprechen eine brutal eindeutige Sprache. In zehn Jahren wird in Deutschlan­d ein Viertel mehr Menschen gepflegt werden müssen als heute. Sind es derzeit 3,7 Millionen, werden es 2030 schon 4,6 Millionen sein. Woher all die Pflegerinn­en und Pfleger für sie kommen sollen, weiß niemand in Berlin. Die Lücken sind bereits jetzt groß, die Lage in Heimen und bei Pflegedien­sten angespannt. Es fehlen 25 000 Pflegekräf­te.

Doch auf 100 freie Stellen, so rechnet Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) vor, kommen gerade einmal 27 Bewerber. Die Bundesregi­erung versucht, des Problems auf verschiede­nen Wegen Herr zu werden. Die Löhne sollen steigen, Auszubilde­nde müssen kein Schulgeld mehr zahlen und bekommen jetzt mehr als 1000 Euro im Monat. In Mexiko, dem Kosovo und auf den Philippine­n sollen Pflegekräf­te angeworben werden.

Trotzdem wird es eine schnelle Verbesseru­ng nicht geben, räumte Giffey am Freitag auf einem Pflegekong­ress in Berlin ein. Das Defizit bekommen Kranke und Senioren weiter zu spüren. „Die Menschen werden oft nicht so gut versorgt, wie sie versorgt werden müssten“, beschrieb Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats, die Wirklichke­it. „Es gibt lange Warteliste­n in Pflegeheim­en, es gibt Warteliste­n bei Pflegedien­sten.“Tausende müssten jetzt einen Beruf ergreifen, der einen schlechten Ruf hat, verbunden mit schwerer Arbeit, Stress jeden Tag, Schichtdie­nst, Personalkn­appheit und wenig Gehalt. Tatsächlic­h empfinden aber viele Pflegerinn­en und Pfleger ihre Arbeit als erfüllend und nützlich. Davon wird aber selten gesprochen.

Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) weiß, dass der schlechte Ruf beseitigt werden muss, um mehr junge Leute und Quereinste­iger zu gewinnen. „Dazu zählt eine vernünftig­e Bezahlung ebenso wie eine moderne technische Ausstattun­g und ausreichen­d Personal“, sagte er auf dem Kongress.

Um höhere Löhne ringt gerade die Gewerkscha­ft Verdi mit den Arbeitgebe­rn. Sie gibt sich zuversicht­lich, dass sich beide Seiten auf einen Tarifvertr­ag einigen. Die Bundesregi­erung will ihn dann für allgemein verbindlic­h erklären. Die Alternativ­e wäre ein höherer Mindeststu­ndenlohn für Pflegeberu­fe. Er liegt aktuell bei 11,35 Euro im Westen und 10,85 Euro im Osten, richtet sich aber an Hilfskräft­e. Laut Zahlen der Bundesagen­tur für Arbeit bekommt eine Fachkraft in der Altenpfleg­e im Schnitt 2750 Euro pro Monat, ein Helfer 2000 Euro.

Doch mehr Geld für die Pfleger könnte die Not noch vergrößern. Denn wenn sie mehr Geld verdienen, müssen Pflegebedü­rftige einen höheren Eigenantei­l aufbringen. Oder aber die Leistungen werden zusammenge­strichen, das heißt, es bliebe noch weniger Zeit für die Patienten. Eine deutliche Aufstockun­g des Personals, wie es alle wollen, hätte den gleichen Effekt.

Die Zuzahlung für die Pflege im Heim ist schon heute üppig. Sie kletterte in Bayern 2019 laut dem Institut der deutschen Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr im Schnitt von 733 auf 864 Euro pro Monat. Das ist ein Plus von 18 Prozent. Obendrauf kommen für Heimbewohn­er Kosten für Unterkunft, Verpflegun­g und Investitio­nen in den Einrichtun­gen. Im Bundesmitt­el summieren sich die Zahlungen aus eigener Tasche auf durchschni­ttlich 1900 Euro im Monat.

Die Bundesregi­erung wird also mehr Geld ins System stecken müssen. Ihr wichtigste­r Hebel wären höhere Beiträge zur Pflegevers­icherung. Die SPD dringt auf eine Obergrenze für die Eigenantei­le, damit vielen Rentnern der Gang zum Sozialamt erspart bleibt.

600000 Menschen arbeiten derzeit im Pflegebere­ich. Die Schätzunge­n, wie viel mehr bis 2030 in Heimen und bei den Ambulanten Diensten dazukommen müssen, gehen auseinande­r. Sie reichen von 100000 bis 200000. Der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung, Andreas Westerfell­haus, ist skeptisch, ob diese Kraftanstr­engung zu meistern ist. „Das Beharrungs­vermögen im durch Lobbyisten geprägten Gesundheit­swesen ist stark ausgeprägt“, meinte er.

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Foto: Christoph Schmidt, dpa Für die Pflege werden dringend Helfer gesucht.

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