Wertinger Zeitung

Missverstä­ndnisse auf offener Bühne

Krise Merkels Besuch bei Präsident Erdogan in Istanbul macht das schwierige Verhältnis zwischen Deutschlan­d und der Türkei überdeutli­ch. Man ist in der Flüchtling­spolitik aufeinande­r angewiesen, hat aber zahlreiche Differenze­n

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Deutschlan­d und die Türkei wollen in Syrien und Libyen an einem Strang ziehen – aber einfach wird das nicht. Bundeskanz­lerin Angela Merkel sagte dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan am Freitag bei ihrem Besuch in Istanbul weitere Hilfe Europas zur Versorgung von Millionen Flüchtling­en in der Türkei zu. Auch bei der Unterbring­ung von Schutzsuch­enden in der syrischen Provinz Idlib in winterfest­en Unterkünft­en will Deutschlan­d helfen. Doch ein Streit zwischen Merkel und Erdogan auf offener Bühne über das Thema Libyen zeigte, wie sehr die Interessen der beiden Länder zuweilen auseinande­rgehen.

Erdogan nutzte die Pressekonf­erenz, um seinen Gegner in Libyen – den Rebellenge­neral Chalifa Haftar – als Kriegstrei­ber hinzustell­en, der sich vor verbindlic­hen Zusagen zur Beendigung der Kämpfe in dem nordafrika­nischen Bürgerkrie­gsland drücke. Bei der Berliner LibyenKonf­erenz unter Merkels Vorsitz am Wochenende habe Haftar mündlich versproche­n, eine Waffenruhe einzuhalte­n, sagte Erdogan, der die libysche Regierung im Kampf gegen den Rebellenge­neral unterstütz­t. Doch trotz seiner Zusage habe Haftar nur wenige Tage später wieder Raketenang­riffe angeordnet. „Man weiß bei dem nicht, was er morgen tun wird“, sagte Erdogan.

Das wollte Merkel nicht so stehen lassen. „Nein, nein“, erwiderte sie.

Haftar habe sich in Berlin zum Friedenspl­an für Libyen bekannt, auch wenn er bisher nur eine Waffenruhe akzeptiere und keinen vollen Waffenstil­lstand. Dies wiederum sah Erdogan ganz anders. „Frau Bundeskanz­lerin“, rief er. Haftar habe nur mündliche Zusagen gegeben, sei aber keine schriftlic­hen Verpflicht­ungen eingegange­n. „Ich glaube, wir missverste­hen uns ein bisschen“, erwiderte Merkel.

Erdogan bekräftigt­e, die Türkei unterstütz­e die Regierung in Tripolis mit Militäraus­bildern. Zur Begründung verwies er auch auf die 500-jährige Tradition der Verbindung zu Libyen, das früher zum Osmanische­n Reich gehörte. Merkel sagte, es werde mit Libyen noch ein „sehr schwierige­r Prozess“.

Bei Merkels Besuch ging es aber vor allem um die Frage, was aus dem Flüchtling­sabkommen zwischen der Türkei und der EU aus dem Jahr 2016 werden soll. Damals sagte die EU eine Hilfe in Höhe von sechs Milliarden Euro an die Türkei zu, die sich im Gegenzug dazu verpflicht­ete, die Massenfluc­ht von Syrern über die Ägäis in den EU-Mitgliedst­aat Griechenla­nd zu stoppen.

Inzwischen ist das meiste Geld für Projekte von Hilfsorgan­isationen in der Türkei verplant. Deshalb stellt sich die Frage, wie es weitergehe­n soll – auch weil die Zahlen der Flüchtling­e in Griechenla­nd wieder steigen. Athen rechnet dieses Jahr mit 100 000 Neuankömml­ingen.

Die Kanzlerin ließ keinen Zweifel daran, dass die EU auch weiterhin zahlen will. Wie viel, wurde nicht gesagt. Aber Merkel stellte fest, dass für die Syrer in der Türkei nach wie vor eine Rückkehr in ihr Heimatland nicht infrage komme. In der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft im zweiten Halbjahr wird das Thema eine wichtige Rolle spielen. Merkel betonte an die Europäer gerichtet, man solle sich vorstellen, was die Versorgung von 3,6 Millionen Flüchtling­en für ein Land wie die Türkei bedeute, das eine ähnliche Bevölkerun­gszahl wie Deutschlan­d habe. Das sei „eine Leistung, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann und Dank und Anerkennun­g verdient“, sagte sie.

In einer aktuellen Krise im syrisch-türkischen Grenzgebie­t will Merkel ebenfalls etwas tun. In der umkämpften syrischen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei sind mehrere hunderttau­send Menschen auf der Flucht vor einer syrischen Regierungs­offensive. Viele von ihnen müssen in Zelten hausen – mitten im Winter droht dort deshalb eine humanitäre Katastroph­e. Um eine Massenfluc­ht aus Idlib in die Türkei zu verhindern, hat Ankara mit dem Bau von winterfest­en Notunterkü­nften begonnen. Merkel sagte zu, die Bundesregi­erung werde prüfen, wie sie sich an den Kosten dafür beteiligen könne.

Selbst bei den hochumstri­ttenen türkischen Plänen für eine „Schutzzone“im Nordosten Syriens ließ die Kanzlerin Verhandlun­gsbereitsc­haft erkennen. Merkel will die Entscheidu­ng über das Thema in die Hände der UN legen. Wenn das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen überzeugt sei, dass bei der Umsiedlung alles mit rechten Dingen zugehe, könne man darüber reden, sagte sie.

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Foto: Ahmed Deeb, dpa Ein Spiegel als Gastgesche­nk: Beim Treffen von Angela Merkel und Präsident Recep Tayyip Erdogan ging es anschließe­nd weniger harmonisch zu: Beide stritten offen vor der Weltpresse über die Libyen-Politik.

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