Ein ganz neues Lebensgefühl
Gesundheit Es ist eine echte Herausforderung, das Wunschgewicht auch zu halten, wenn man abgenommen hat. Immer wieder muss man gegen Gewohnheiten ankämpfen und frustrierende Phasen aushalten. Aber es kann funktionieren
Vor rund einem Jahr berichtete unsere Redakteurin Claudia Goetting, wie es ihr gelungen war, im Laufe des Jahres 2018 rund 30 Kilo abzunehmen. Nun ist ein weiteres Jahr vergangen. Es gilt ja als schwierig, abgenommenes Gewicht zu halten. Nun berichtet sie, wie es ihr im Jahr 2019 erging.
Eigentlich sollte ich mir die nebenstehende Tabelle viel öfter anschauen. Wenn ich unzufrieden vor dem Spiegel stehe. Oder mich ärgere, dass die Urlaubspfunde langsamer verschwinden als gewünscht. Obwohl ich die Tabelle selbst jeden Monat aktualisiere, kann ich kaum glauben, was da schwarz auf hellblau steht. Ich (Claudia Goetting, 42 Jahre alt, zweifache Mutter, 1,65 Meter groß) habe in einem Jahr 30 Kilo abgenommen – und halte mein Gewicht nun seit einem Jahr. Am 1. Januar 2018 wog ich noch 110 Kilo. Inzwischen sind es zwischen 76 und 78 Kilo. Das bedeutet, ich habe 30 Kilo mehr mit mir herumgeschleppt. Das entspricht 30 Paketen Zucker, 120 Päckchen Butter, 20 großen Flaschen Wasser – oder dem Gewicht meiner Tochter vor nicht allzu langer Zeit. Wenn ich mir vorstelle, wie schwer sie war, wenn ich sie mal kurz auf den Arm genommen habe, ist es schier unbegreiflich, dass dieses Gewicht einmal nonstop an mir dranhing.
● Klick Schlank war ich nie, auch vor den Schwangerschaften nicht. Richtig bewusst, wie dick ich bin, wurde mir meistens erst, wenn ich Fotos von mir gesehen habe. Wobei es aus der Zeit nicht so viele Fotos von mir gibt. Warum wohl? Im Januar 2018 habe ich ohne konkreten Anlass – ich hatte keine gesundheitlichen Probleme, die Blutwerte waren in Ordnung – beschlossen, dass es so nicht weitergeht. Ich wog 110 Kilo, trug Kleidergröße 50. Ich nahm mir vor, mein Leben zu ändern – und zwar ohne Diät, ohne Fitnessstudio, ohne Pülverchen und Shakes – und ohne konkretes Wunschgewicht.
● Veränderung Im Rückblick bin ich überrascht, wie gut es funktioniert hat. Ich habe jeden Monat zwischen einem und vier Kilo abgenommen. Auf die Waage bin ich nur jeden Ersten des Monats, um zu vermeiden, dass mich normale Schwankungen wie durch wetter- oder zyklusbedingte Wassereinlagerungen verunsichern. Nach etwa 30 Kilo Gewichtsverlust hatte ich das Gefühl, dass es so jetzt gut für mich ist, obwohl ich laut BMI immer noch leicht übergewichtig bin.
● Ersatzessen Ich setzte in die Praxis um, was ich natürlich schon lange theoretisch gewusst habe: Weder die Pubertät meiner Kinder noch teure Autoreparaturen, Alltagsstress, Familienstreitigkeiten oder Reibereien im Beruf werden leichter, wenn ich zum Trost, aus Frust oder auch zur Belohnung esse. Also ließ ich dieses Ersatzessen weg.
● Konzept Mein Programm hat keinen Namen. Es ist eine Mischung und an meinen Biorhythmus, meine Vorlieben und meinen Alltag angepasst. Volumetrics – also bevorzugt Nahrungsmittel mit großem Volumen, aber geringer Energiedichte (Suppen, Salate, bestimmte Obstsorten, Gemüse); Struktur (drei Hauptmahlzeiten mit vier bis sechs Stunden Pause); Low Carb (üppige Kohlenhydrat-Mahlzeiten gibt’s nicht werktags am Abend, sondern am Wochenende mittags). Ich esse Wurst und Käse – und zwar nicht die fettreduzierte Variante. Die Menge macht’s. Ich trinke literweise ungesüßte Tees und zwischendrin dünne Grapefruitschorle. Auf Light-Produkte greife ich nur ab und zu bei Cola und Limo zurück. ● Bewegung Sport – egal ob Fitnessstudio oder feste Kurse im Verein – bedeutet zusätzlichen Stress für mich. Inzwischen gehören aber flotte Spaziergänge bei fast jedem Wetter – meistens vor der Arbeit und in der Mittagspause – einfach dazu. Sie kurbeln nicht nur den Stoffwechsel an, sondern machen auch den Kopf frei. Bergwanderungen waren früher undenkbar. Jetzt machen sie mir Spaß. Im Schlafzimmer steht immer noch der Crosstrainer, der mir während der Abnehmphase treue Dienste geleistet hat. 30 Minuten vorm Fernseher oder mit Musik ließen sich super in meinen turbulenten Arbeits- und Familienalltag einbauen. Inzwischen steige ich nicht mehr so oft auf den Crosser, dafür bin ich öfter draußen aktiv.
● Frust/Ungeduld Nach ziemlich genau einem Jahr ging es ans Halten. Das hat anfangs super funktioniert. Ich habe mein Programm weiter durchgezogen, allerdings öfter Ausnahmen erlaubt. Ab etwa Mai hatte ich dann das Gefühl, dass sich mein Körper das verlorene Gewicht zurückholen will (Set-PointTheorie). Es ist schwer zu beschreiben. Ich bin mehrmals in der Woche gelaufen, habe mich beim Essen zurückgehalten und musste doch aufpassen, dass ich nicht zunehme. Ich hatte die absurdesten Gedanken. Ist der Körper eineinhalb Jahre nach der Umstellung in einem Modus, in dem er unbedingt halten will, was er hat? Oder spielt die Psyche („eigentlich will ich ja gar nicht mehr abnehmen“) eine Rolle? Oder, oder, oder … Nach einem stressigen Juli und dem Badeurlaub zeigte die Waage zwei Kilo mehr, obwohl ich nicht über die Stränge geschlagen hatte. Ich war mir sicher, sobald ich wieder im Alltagsrhythmus bin, sind die Pfunde schnell wieder weg. Pustekuchen! Ich wurde richtig nervös. Bin oft dreimal am Tag spazieren gegangen – und, obwohl ich es besser weiß, täglich auf die Waage, was mich noch mehr kirre gemacht hat.
● Ich finde, Schwankungen von zwei bis drei Kilo sind absolut okay. Das ist normal – und ist auch bei jedem Normalgewichtigen so. Aber ich wollte mit aller Macht verhindern, dass zu zwei Kilo Sommerspeck zwei Kilo Winterfutter dazukommen. Dann wären es nämlich ruckzuck aufgerundet fünf Kilo – und das wollte ich nicht. Im Herbst war ich dann wieder dort, wo ich vor der Winterzeit hinwollte. Das hat sich im Nachhinein als richtig herausgestellt. Im November und Dezember war mal wieder Land unter – erst beruflich, dann auch privat (alle Familienmitglieder mal abwechselnd, mal gleichzeitig krank) und dann noch die Weihnachtsund Silvesterschlemmereien. Da kommt dann schon mal alles durcheinander – und zwar nicht nur für ein paar Tage. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass ich in spätestens acht Wochen wieder im unteren Schwankungsbereich bin. Ernährungsund bewegungstechnisch bin ich jedenfalls wieder auf Kurs.
● Kleiderkauf Im vergangenen Jahr standen zwei besondere Ereignisse an: der Tanzkurs-Abschlussball meines Sohnes und der Junggesellinnenabschied meiner Schwester. Ich habe zum ersten Mal seit etwa 25 Jahren Kleider gekauft – und getragen. Und ich war so froh, dass ich nicht bei Größe 50 suchen musste, sondern bei 40/42. Manchmal stehe ich im Geschäft vorm Regal, halte eine Hose in der Hand und denke mir: Da passt du nie und nimmer rein. In der Umkleidekabine dann die Überraschung: Ich passe rein.
● Ausblick Nach einem Jahr kann ich sagen: Es ist ein ganz neues Lebensgefühl. Ich bin fitter, ausgeglichener, schlafe besser und fühle mich insgesamt wohler, obwohl ich ja vorher keine unglückliche Dicke war. Mir ist allerdings auch klar, dass ich ein Leben lang achtsam sein muss. 40 Jahre Gewohnheit wirft man nicht so einfach über Bord – und die Wechseljahre stehen vor der Tür.