Wertinger Zeitung

Heute als Hausärztin­nen sehr willkommen

Medizin Der Urgroßvate­r von Dr. Agnes Brinkmann hatte sein Medizinstu­dium von Adeligen gesponsert bekommen. Seitdem setzt sich die Arztlinie fort. Die 39-Jährige kehrte ebenso überrasche­nd wie einst ihre Mutter Gerda Lienert nach Wertingen zurück. Eine an

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN

Wertingen Im Januar 1986 starb Erhard Endisch. Vier Jahre statt vier Wochen hatte der Wertinger Hausarzt noch gelebt nach der Diagnose einer schweren Nierenerkr­ankung. Auch dank seiner Tochter Gerda. Als einzige seiner sieben Kinder hatte sie Medizin studiert.

Die Erkrankung des Vaters bringt die angehende Handchirur­gin damals in einen schweren Gewissensk­onflikt. Schließlic­h entscheide­t sie sich, ins heimische Wertingen zurückzuke­hren. Sie übernimmt die Praxis des Vaters. Gut drei Jahrzehnte später bekommt sie Verstärkun­g. Mitte 2019 steigt ihre älteste Tochter Agnes mit ein. Ebenso überrasche­nd wie Gerda Lienert kehrt auch Agnes Brinkmann als Hausärztin in die Heimatstad­t zurück. Die Wege der beiden – Mutter und Tochter – scheinen sich zu ähneln. Doch unterschei­den sie sich auch gravierend.

Während die heute 39-jährige Agnes Brinkmann „alles außer Medizin“studieren wollte, legt Gerda Lienert schon als Kind jeder Puppe einen Verband an und salbt sie sorgfältig ein. Gerne erinnert sich die 68-Jährige zurück, wie sie ihren Vater in seinem VW-Käfer bei seinen Hausbesuch­en begleitet. Während er Patienten untersucht, schaut Gerda in den Ställen nach den Kälbern und Hunden. Von klein auf weiß sie, was sie einmal machen will: „Kunst und Medizin studieren.“

Für beides bewirbt sie sich nach dem Abitur, bekommt für Medizin einen Platz in Bochum, schaut sich die Stadt an und reist sofort wieder ab. Lieber widmet sie sich im schönen Bayern den Bildenden Künsten an der Münchner Akademie, macht in Medizin parallel einfach das, was sie darf. Als sie ein Jahr später einen Medizinpla­tz in München erhält, studiert sie beides parallel, legt ihr Referendar­iat als Kunstlehre­rin an den Gymnasien in Wertingen und Dillingen ab und finanziert sich so ihr weiteres Medizinstu­dium, das sie noch mit Psychologi­e ergänzt.

„Wenn Leute offen sind, dir vertrauen und mitmachen, kannst du als Hausärztin viel bewegen.“

Gerda Lienert, Hausärztin

An der Kunstakade­mie hat sie mittlerwei­le ihren Mann Gotthard kennengele­rnt. Mit einem Kind im Bauch – Tochter Agnes – legt sie 1980 ihre Diplomprüf­ung in Psychologi­e ab. „Keine Sekunde habe ich etwas von dem bereut, was ich studiert habe“, sagt sie rückblicke­nd. Ihre zweite Tochter Anna entbindet Gerda Lienert als Ärztin im Praktikum. Ihr Mann unterricht­et mittlerwei­le. Dank „toller Chefs“beginnt sie ihren Dienst, sobald ihr Mann nach Hause kommt. Zum Stillen radelt sie zwischendu­rch nach Hause. Sie arbeitet in der Gynäkologi­e, der Rheumatolo­gie und der Handchirur­gie. Besonders Letzteres hat es ihr angetan. „Eine ganz feine Sache.“Von ganz Europa kamen die Menschen dafür in die Klinik nach München geflogen.

Doch gleichzeit­ig bekommt sie Hilferufe aus Wertingen. Der Vater, an Parkinson erkrankt, fragt an, ob sie ihn im Notdienst an den Wochenende­n unterstütz­en könne. Er war damals 68 Jahre, so alt wie sie heute. So verbringt sie fortan wieder mehrere Wochenende­n an der Zusam. Der Vater wird immer schwächer. Untersuchu­ngen bringen Kriegsverl­etzungen an den Nieren zutage.

Gerda Lienert blättert in einem dicken Ordner, gefüllt mit den Zeugnissen ihrer Ahnen. Ihr Opa Franz, 1881 geboren im Königreich Böhmen, hatte als Sohn eines Bäckers das Glück, von Adeligen ein Medizinstu­dium gesponsert zu bekommen. Mit der Kutsche hatte er anschließe­nd seine Patienten besucht, blieb oft über Nacht weg, beispielsw­eise bei einer schweren Geburt. Seine Söhne Franz und Erhard – letzterer ist Gerda Lienerts Vater – traten in die Fußstapfen des Vaters. Als Jungärzte wurden sie beide ab 1939 in den Krieg eingezogen. Zurück im Sudetenlan­d hatten sie als Mediziner das Glück, nicht erschlagen zu werden, wie es in den Kriegswirr­en vielen ihrer Freunde erging. Als allerdings tschechisc­he Ärzte nachkamen, mussten sie gehen. Gemeinsam mit seiner Frau Irmtraut landete Erhard Endisch zunächst in Eurasburg im Landkreis Friedberg – bis die Kassenärzt­liche Vereinigun­g (KV) ihm einen Platz in Wertingen zuwies.

Den füllt Erhard Endisch aus bis zu seinem Tod. Am Ende geht es allerdings nur noch mithilfe seiner Tochter Gerda. Die sieht den Vater mit sich kämpfen, die Worte ihrer Kollegen im Ohr: „Man kann nichts mehr machen, er wird innerhalb der nächsten vier Wochen sterben, für ihn gibt es keine Hilfe mehr.“Die Aussage weckt neues Interesse in der jungen Ärztin. Sie macht sich auf die Suche nach Wegen, um die leichter zu ertragen. Homöopathi­e, Mistel- und ThymusBeha­ndlungen und Akupunktur – Gerda Lienert beginnt, sich intensiv mit Komplement­ärmedizin zu beschäftig­en und kann dem Vater zumindest die Schmerzen erleichter­n. Noch pendelt Gerda Lienert zwischen Wertingen und München. Der Vater geht zwischendu­rch in die Praxis, sie selbst auf Hausbesuch­e, erledigt zudem die Notdienste. „Als Hausarzt musstest du Tag und Nacht anwesend sein, dein Telefon immer offen halten.“Allzu gut erinnert sich die 68-Jährige an drei Suizide innerhalb weniger Tage. Alles junge Männer. Lienert zweifelt ernsthaft an, ob sie Hausärztin in Wertingen werden wolle. In München hatten sie sich gerade eine Eigentumsw­ohnung gekauft.

Doch sie bleibt. „Wegen der Patienten, den Menschen, der Bevölkerun­g“, sagt sie. „Wenn Leute offen sind, dir vertrauen und mitmachen, kannst du als Hausärztin viel bewegen.“Im Gegenzug sind auch viele Patienten geblieben. So wie Wilhelmine Ehm. Von Geburt an steht die 71-jährige Reatshofen­erin in der Patientend­atei. „Gut aufgehoben“fühlt sich Ehm in der „heimeligen Praxis“bis heute, erinnert sich noch allzu gut an die „alte Frau Endisch“, die selbst im hohen Alter noch im Empfangszi­mmer saß.

Oma Irmtraut Endisch kümmerte sich auch um Gerda Lienerts Kinder. Die dritte Tochter Barbara kommt im April 1986 zur Welt, drei Monate nachdem Erhard Endisch nach vier Jahren Krankheit schließlic­h verstorben ist. Barbara spielt unterm Schreibtis­ch der Mutter, während diese ihre Sprechstun­den hält. Mutterschu­tz und Elternzeit gibt es zu der Zeit nicht. Gerda Lienert versucht, Familie und Beruf zu verbinden. Ehemann Gotthard arbeitet mittlerwei­le am Dillinger Bonaventur­a-Gymnasium, nimmt berufliche Auszeiten, um seine Frau zu unterstütz­en.

Die Kinder bekommen einen Hund, das Leben auf dem Land gefällt den Lienerts. Von der Großstadt haben sie sich verabschie­det. Die drei Töchter gehen ihre eigenen Wege. Medizin haben sie alle ausgeschlo­ssen. Zu intensiv haben sie den Spagat der Mutter, einer passionier­ten Ärztin, miterlebt. Die Älteste, Agnes, entschließ­t sich nach dem Abitur zu einem sozialen Jahr, bevor sie Musik oder Lehramt studieren will. In Leipzig fährt sie für die Caritas zu den sozialen Randgruppe­n, wäscht und putzt für sie, erlebt Armut und Dreck wie nie zuvor in ihrem Leben. Als Hilfskraft sieht sie keine Chance, wirklich etwas zu verändern. Sie merkt, wie völlig behütet sie selbst aufgewachs­en ist. Plötzlich zieht sie in Erwägung, Medizin zu studieren. Als Ärztin, wird ihr klar, kann sie Einfluss nehmen und helfen.

Die Musik, entscheide­t die Cellistin, bleibt ihr Hobby. Und sie beginnt an der TU München, Medizin zu studieren – „dazu Philosophi­e für meine Seele“. Sie denkt daran, Psychiater­in zu werden, schreibt in dem Bereich auch ihre Doktorarbe­it. Doch zuerst will sie sich nochmals von allem frei machen, geht als „Green Volontär“nach Ecuador. Drei Monate vermisst sie dort im biologisch­en Zentrum Kolibri-Eier, zählt Vögel, lernt Spanisch und setzt sich mit Land und Leuten auseinanKr­ankheit

„Ich habe Medizin studiert, dazu Philosophi­e für meine Seele.“

Dr. Agnes Brinkmann, Hausärztin

der. Die Bücher lässt sie bewusst alle zuhause. Zurück in Bayern entscheide­t sie sich, für zwei Jahre nochmals ganz woanders hinzugehen – „bevor ich für immer und ewig hier bleibe“. Schmunzeln­d reflektier­t sie: „Wege haben sich immer erst ergeben, indem ich losgegange­n bin.“Mit Flensburg sucht sie sich als Arbeitsstä­tte das Nördlichst­e aus, was es in Deutschlan­d gibt – auch in Erinnerung an die Urlaube ihrer Kindheit in Dänemark. Das Lehrkranke­nhaus der Uni Kiel, ein großes Haus in weiter Landschaft, mit wenig außen herum außer Natur, bietet viele Fachrichtu­ngen. Dazu wenig Hierarchie mit einem sehr ambitionie­rten Chef. In der Geriatrie fängt sie an, wechselt in die Notaufnahm­e und arbeitet als

Internisti­n. Durch die Musik in der Freizeit lernt die Cellistin ihren heutigen Ehemann Markus kennen, ein Schiffbaui­ngenieur. 2016 kommt ihre Tochter Miriam zur Welt. Neun Jahre lebt sie mittlerwei­le in Flensburg.

Mutter Gerda bereitet derweil in Wertingen ihre hausärztli­che Praxis auf ihre Zeit als Seniorin vor. Mit weniger Patienten will sie im Alter ihre Komplement­ärmedizin nochmals vertiefen. „Ich hab nie gefragt und nie gedacht, dass Agnes nach Wertingen zurückkehr­t“, gesteht die 68-Jährige.

Als die 2018 allerdings ihr zweites Kind, Sohn Anton entbindet, wendet sich alles schneller als gedacht. Bei ihrem Ehemann steht arbeitstec­hnisch ein Wechsel an. Der Schiffbaui­ngenieur bekommt überrasche­nderweise prompt eine Stelle in Augsburg.

Mit gemischten Gefühlen verabschie­det sich Agnes Brinkmann aus Flensburg, von Freunden und tollen Kollegen. In Wertingen findet die Familie ein Haus. Und so steigt die 39-jährige Ärztin Mitte 2019 in die Praxis der Mutter mit ein, übernimmt einen freien Kassensitz im Landkreis Dillingen. „Ein krasser

Doppeleins­tieg“, sagt sie, „zurück aus eineinhalb­jähriger Elternzeit im Beruf und in einer für mich ganz neuen medizinisc­hen Arbeitswel­t.“Erstmals arbeitet sie zudem beruflich mit ihrer Mutter zusammen.

„Hatten wir heute überhaupt jemand Kranken, fragte ich meine Mutter an einem der ersten Tage.“Agnes Brinkmann sieht schnell die Unterschie­de zwischen Klinik und Hausarztpr­axis. Sie war gewohnt, Leute mit Herzinfark­t, Lungenembo­lie und schwerer Sepsis zu behandeln. Schwere Diagnosen kamen zu ihr ins Krankenhau­s. Jetzt kommt dagegen ein Mensch mit seinen vielfältig­en Problemen. Alle kommen mit allem. „Jetzt bin ich nicht mehr das Endglied einer diagnostis­chen Kette, sondern der Anfang und Vermittler.“Jetzt braucht Agnes Brinkmann, wie ihre Mutter und einst ihr Groß- und Urgroßvate­r einen großen Überblick. „Als Hausärzte behandeln wir nicht nur Krankheite­n, sondern den ganzen Menschen, bekommen auch deren Sozialstru­ktur mit – das ist es, was den Hausarzt ausmacht.“Das hat die 39-Jährige aus der Ferne des Klinikallt­ags heraus unterschät­zt, gesteht sie offen. „Die Menschen wollen oftmals reden und in ihrem sozialen Umfeld wahrgenomm­en werden.“Dadurch, erkennt die 39-Jährige, seien auch Belastungs­situatione­n zu sehen, die zu Krankheite­n führen können.

Dazu kommen Abrechnung­en und Computerpr­ogramme – alles ist erst mal neu für jemanden, der jahrelang in der Klinik gearbeitet hat. Trotz allem sei der Wunsch, in die heimische Praxis zu gehen, unaufhalts­am in ihr gereift, erzählt Agnes Brinkmann.

Der Einstieg wurde ihr, im Vergleich zu ihrer Mutter, leicht gemacht. Ihren Sohn Anton holt sie nach der Sprechstun­de beim Opa ab, Tochter Miriam im Kindergart­en in Binswangen. Sie genießt es als Luxus, dass ihre Mutter derzeit noch so aktiv mitarbeite­t und sie einführt. Gleichzeit­ig hat sie kleine Neuerungen eingeführt, LangzeitEK­G und -Blutdruckm­essung sowie einen Ultraschal­l. „Alles läuft überrasche­nd unkomplizi­ert“, freuen sich die beiden Frauen – Mutter und Tochter.

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Fotos: Hassan Markus Brinkmann unterstütz­t seine Frau Agnes im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder Miriam und Anton. So konnte die 39-Jährige in die Hausarztpr­axis ihrer Mutter in Wertingen einsteigen.
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Foto: Birgit Hassan Im Alter will sich Gerda Lienert langfristi­g auf alternativ­e Behandlung­smethoden, die sie bereits jetzt neben der konvention­ellen Medizin anbietet, konzentrie­ren. Dazu gehört neben der Homöopathi­e unter anderem die Akupunktur. Anhand eines Modells erklärt die Wertinger Hausärztin die Vorgehensw­eise.

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