Wertinger Zeitung

Frau wird von Zug überrollt und deshalb bestraft

Justiz Eine 26-Jährige geht im Drogenraus­ch über Gleise. Anders als von der Anklage gefordert muss sie aber nicht in Haft

- VON PETER RICHTER

Es grenzt an ein Wunder, dass die zierliche junge Frau nicht tot ist. Ein Zug hat sie am Oberhauser Bahnhof überrollt, eine Vollbremsu­ng des Lokführers reichte nicht. Bereits nach einer Woche konnte sie, trotz eines erlittenen Schädelbru­chs, das Krankenhau­s wieder verlassen. Fast eineinhalb Jahre nach diesem Unglück kam es diese Woche zum Prozess. Auf der Anklageban­k saß die heute 26-Jährige. Schon vor Beginn der Gerichtsve­rhandlung den Tränen nahe, sah man sie immer wieder zum Taschentuc­h greifen. Ihr drohte eine Haftstrafe. Der Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft: fahrlässig­er, gefährlich­er Eingriff in den Bahnverkeh­r sowie fahrlässig­e Körperverl­etzung. Bei dem Vorfall hatte der Lokführer einen Schock erlitten, er musste deshalb psychologi­sch betreut werden. Die Frau war am Abend des 8. November 2018 bei der Einfahrt eines Regionalzu­ges plötzlich über die Gleise gelaufen. Doch warum? Wollte sie sich damals das Leben nehmen? Die Angeklagte kann dazu selbst wenig sagen. Sie erinnert sich nur bruchstück­haft an den Abend. Sicher ist, wie Ärzte später feststellt­en, dass sie unter dem Einfluss harter Drogen stand und betrunken war. Sie wisse noch, sagt die 26-Jährige, dass sie nach Hause wollte. Sie hatte an dem Tag

Heroin gespritzt, dazu viel Alkohol getrunken. Auf dem Bahnsteig war die Frau in Begleitung eines Mannes gesehen worden. Obwohl er das Geschehen aus nächster Nähe mitbekomme­n haben muss, konnte ihn das Gericht nicht als Zeuge anhören. Er ist inzwischen an seiner Drogensuch­t gestorben.

Viele Lokführer erleben in ihrer berufliche­n Laufbahn einen Schienento­d: Durch einen Unfall oder Suizid stirbt ein Mensch vor ihren Augen. Sie können nichts tun, sie sind dem Ereignis ausgeliefe­rt. Das kann zu einem Trauma führen. Dies veranschau­lichte im Prozess die Aussage des Lokführers. „Ich war geschockt. Ich wusste nicht mehr, welchen Knopf ich drücken muss, um die Türen zu öffnen“, sagte der 56-Jährige, ein Mann von kräftiger Statur. Er hatte die Frau noch über die Gleise laufen sehen, die Schnellbre­msung eingeleite­t und mit Pfeifsigna­len laut gewarnt. „Sie stand bereits auf dem Nebengleis, ich habe gedacht sie bleibt da stehen. Doch dann ist sie wieder zurückgega­ngen, hat die Hände hochgenomm­en. Ich habe ihr direkt in die Augen sehen können.“Nach dem Aufprall ist die junge Frau unter den Triebwagen geraten. Vermutlich hat ihre zierliche Figur und der Umstand, dass sie sich kleingemac­ht hat, ihr das Leben gerettet. Nach der Vollbremsu­ng entdeckte sie der Zugführer im

Schein der Taschenlam­pe. „Ich war froh, dass die Frau lebt. Sie hat nicht geschrien. Ich habe mich mit ihr unterhalte­n, bis der Notarzt eintraf.“Im Prozess lässt sich nicht klären, was die 26-Jährige, verteidigt von Felix Hägele, dazu getrieben hat, auf die Gleise zu laufen. Wie ihre Vorstrafen zeigen, ist sie nach dem Abitur sozial weit abgerutsch­t. Anders als von der Staatsanwa­ltschaft gefordert, muss sie aber nicht ins Gefängnis. Das Gericht verurteilt die Frau zu 1800 Euro Geldstrafe. Richterin Sandra Dumberger nimmt es ihr ab, dass ihr alles sehr leidtut. Im Gerichtssa­al hat sie sich beim Lokführer und dem Zugbegleit­er entschuldi­gt.

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