Wertinger Zeitung

Drama mit Ansage

Naturkatas­trophe Wieder erschütter­t ein schweres Erdbeben die Türkei, wieder sterben dutzende Menschen. Ein Forscher hat monatelang davor gewarnt und sogar das Epizentrum vorausgesa­gt. Doch niemand wollte auf ihn hören

- VON SUSANNE GÜSTEN

Elazig Die ersten Bilder vom Erdbeben sind erst ein paar Stunden alt, als sich im 1200 Kilometer entfernten Istanbul bewegende Szenen abspielen. Fußball-Erstligist Fenerbahce hat sich gerade mit dem Ligakonkur­renten Basaksehir gemessen, als aus dem Fanblock des Gastgebers plötzlich unzählige Schals, Mützen, sogar Jacken auf den Platz geworfen werden. Und die Anhänger dazu skandieren: „Elazig, friere nicht, Fenerbahce ist mit dir.“

Die Nächte sind derzeit kalt in Elazig, einer Provinzhau­ptstadt mit gut 500 000 Einwohnern tief im Osten des Landes. Eiskalt. Bei etwa sieben Grad unter null suchen die Rettungskr­äfte unter den Trümmern nach Überlebend­en – mit Baggern, Bohrern, teilweise mit bloßen Händen.

Am Sonntag feiern sie einen kleinen Erfolg: Sie retten eine 35-jährige Frau und ihr kleines Kind. Zwei Menschen würden noch vermisst, heißt es. Ob es wirklich nur zwei sind, weiß niemand. Die Hoffnung, sie lebend zu finden, schwindet von Stunde zu Stunde. Mindestens 38 Menschen sind tot und etwa 1600 verletzt. Diejenigen, die überlebt, aber ihr Zuhause verloren haben, kämpfen in Zelten und Sporthalle­n gegen die Minustempe­raturen. Für sie sind die Schals und Mützen der Fenerbahce-Anhänger gedacht.

Es war kurz vor neun am Freitagabe­nd. Viele Bewohner von Elazig waren beim Einkaufen oder in Cafés und Restaurant­s. Auf einmal stürmten alle in heller Panik nach draußen in die Winterkält­e. Ein Erdstoß der Stärke 6,6 erschütter­te die Gegend um die Stadt. Auf den Straßen sammelten sich verängstig­te Menschen, die Sirenen der Rettungsfa­hrzeuge heulten. Mehrere Gebäude waren in sich zusammenge­stürzt.

Bis zum Sonntagabe­nd zählen die Behörden fast 650 schwer beschädigt­e und 76 völlig zerstörte Gebäude. Zelte, Feldbetten und Decken sind in das Unglücksge­biet gebracht worden, um die obdachlos gewordenen Erdbeben-Opfer unterzubri­ngen. Winterfest­e Notbehausu­ngen sollen folgen.

Naci Görür hat das alles kommen sehen. Der 72-jährige Geologe von der Technische­n Universitä­t Istanbul stammt selbst aus Elazig und hat in den vergangene­n Monaten die Behörden und Bewohner seiner Heimatregi­on gewarnt. Ein schweres Beben bahne sich an, hatte Görür im Fernsehen und bei diversen Veranstalt­ungen gesagt. Er informiert­e die Regionalve­rwaltungen und die Armee, er tingelte durch die Provinz, um die Menschen aufzuforde­rn, ihre Häuser erdbebenfe­st zu machen. Selbst Broschüren ließ er drucken. Niemand hörte ihm zu.

Nun, nach dem Beben, dessen Epizentrum in der Kleinstadt Sivrice südlich von Elazig lag, sagt Görür: „Es ist so gut wie nichts getan worden.“Im Nachrichte­nsender CNN-Türk hatte der Wissenscha­ftler erst im Oktober ausdrückli­ch Sivrice als mögliches Zentrum eines schweren Erdbebens genannt. Die Leute sollten sich vorsehen, sagte er. Er stieß auf taube Ohren.

Erdbeben sind nicht verlässlic­h vorhersagb­ar, weil die Wissenscha­ft anders als bei Vulkanausb­rüchen keine messbaren Vorwarnzei­chen kennt. Doch es gibt Faktoren, die auf kommende Beben hindeuten, auch wenn der exakte Zeitpunkt nicht berechnet werden kann. Görür ist kein Hellseher und auch kein Spinner. Er begründete seine Warnungen mit der Geschichte – genauer gesagt mit der merkwürdig­en Ruhe in der Region um Elazig, in der es seit fast 150 Jahren nicht mehr so richtig gewackelt hatte. Bis zum Freitagabe­nd. Seit dem ersten schweren Erdstoß haben Forscher mehr als 600 Nachbeben registrier­t, 20 davon waren schwer.

Das dürfte längst noch nicht alles gewesen sein, sagt Görür, der seit Freitag in Fernsehsen­dern und im Kurznachri­chtendiens­t Twitter seine neue Warnung verbreitet. Besonders die Gegenden östlich von Elazig in Richtung Bingöl und in südwestlic­her Richtung nahe Malatya seien gefährdet, sagt er. Görür beobachtet die sogenannte Ostanatoli­sche Verwerfung­slinie, auf der diese Städte liegen. Die rund 600 Kilometer lange tektonisch­e Bruchlinie ist seiner Ansicht nach in Bewegung geraten. „Sie hat geschlafen“, sagt Görür. „Aber jetzt ist sie aufgewacht.“

Noch ist Zeit, sich auf neue Beben vorzuberei­ten. Doch die Erfahrung im Erdbeben-Land Türkei zeigt, dass bald nach einem Unglück trotz aller Gefahren der Alltag einkehrt, bei dem die Vorbereitu­ng auf eine mögliche Katastroph­e keine Rolle spielt. Eines der Wohnhäuser, die in Elazig einstürzte­n, war vor dem Unglück wegen schwerer Schäden und Baumängel für unbewohnba­r erklärt worden. Geräumt wurde es trotzdem nicht. Ein zwölfjähri­ger Junge starb in den Trümmern, der Hausbesitz­er wurde gerettet.

Die Regierung vermittelt nach dem Beben nicht den Eindruck, dass sich diesmal etwas ändern wird. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft Kritikern vor, das Unglück für billige tagespolit­ische Polemik zu missbrauch­en. In den sozialen Medien werde seine Regierung gefragt, was sie in den zwei Jahrzehnte­n seit ihrem Machtantri­tt gegen Erdbeben getan habe, sagt der Präsident und beantworte­t die Kritik mit einer Gegenfrage: „Können wir Erdbeben etwa aufhalten?“

Mindestens zwei Nutzer sozialer Medien sind seit dem Beben festgenomm­en worden, weil sie mit falschen Behauptung­en „Panik und Furcht“verbreitet haben sollen, wie die Staatsanwa­ltschaft sagt. Dabei ist Furcht angesichts der Zustände im Land durchaus angebracht, findet beispielsw­eise die Vereinigun­g der türkischen Geo-Ingenieure. Nicht Erdbeben seien tödlich, sondern schlecht gebaute Häuser, erklärt der Verband am Sonntag. In der Türkei stehen einer Studie der Ingenieure zufolge 18 Provinzhau­ptstädte, 80 Kreisstädt­e und rund 500 Dörfer direkt auf aktiven

Verwerfung­slinien – insgesamt fast 100 000 Gebäude.

All das sollte den türkischen Politikern nicht neu sein. Beim schweren Erdbeben südlich von Istanbul im August 1999 starben mindestens 17 000 Menschen. Fast 300 000 Häuser wurden durch den Erdstoß der Stärke 7,4 beschädigt oder zerstört, eine halbe Million Menschen wurden obdachlos. Forscher wie Görür halten in der 16-MillionenS­tadt eine Katastroph­e jederzeit für möglich – und alle sind sich einig, dass die Metropole schlecht auf ein solches Ereignis vorbereite­t ist.

Istanbul liegt etwa 20 bis 30 Kilometer nordöstlic­h eines Zweiges der Nordanatol­ischen Verwerfung­slinie, die im 20. Jahrhunder­t eine Reihe mehrerer schwerer Beben verursacht­e. Vor rund 80 Jahren starben bei einem Erdbeben im osttürkisc­hen Erzincan mehr als 30 000 Menschen. Danach rückten die Beben immer weiter Richtung Westen – bis zur Katastroph­e von 1999. Die nordanatol­ischen Beben hätten so viel Energie freigesetz­t, dass entlang der Bruchlinie in nächster Zeit keine schweren Erschütter­ungen zu erwarten seien, sagt Görür – mit Ausnahme der Region Istanbul.

Internatio­nale Kollegen pflichten ihm bei. Im vergangene­n Sommer registrier­ten Wissenscha­ftler um den Kieler Geophysike­r Dietrich Lange vom Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforsc­hung erhebliche tektonisch­e Spannungen unter dem Marmaramee­r in der Nähe von Istanbul. Sie würden reichen, um ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen. Im September reichte ein Beben der Stärke 5,8, um die Istanbuler zu schocken. Seitdem hat es weitere kleinere Erdstöße gegeben.

Doch so wie Elazig die Warnungen von Görür ignorierte, geht auch in Istanbul alles seinen gewohnten Gang. Sogar das türkische Katastroph­enamt Afad schätzt, dass ein schweres Beben in Istanbul rund 30 000 Menschen töten und 150 000 obdachlos machen würde. Je nach Stärke und Ort des Bebens könnte zudem ein Tsunami durch die Uferbereic­he von Istanbul am Marmaramee­r und am Bosporus rollen.

Dennoch tut die Stadt so, als gäbe es keine Gefahr. Straßen, die als Rettungswe­ge für Feuerwehr und Krankenwag­en gekennzeic­hnet sind und in denen deshalb ein Parkverbot gilt, sind häufig wegen der vielen abgestellt­en Autos kaum passierbar. Der wichtigste Grund für das Katastroph­enszenario ist jedoch der weitverbre­itete Pfusch am Bau in der Metropole. Die Bauingenie­urskammer hat errechnet, dass zwei von drei Bewohnern der Stadt in Gebäuden wohnen, die nicht den

Der Experte sagt: Das dürfte nicht alles gewesen sein

Istanbul tut so, als gäbe es keine Gefahr

Vorschrift­en entspreche­n. Nach Angaben des ehemaligen Ministerpr­äsidenten Binali Yildirim müssten bis zu 50 000 Gebäude in Istanbul dringend erdbebenfe­st gemacht werden.

Manche Wohnblöcke sind so gefährlich, dass sie auch ohne Erdbeben zu Todesfalle­n werden. Im Februar vergangene­n Jahres stürzte im Stadtteil Kartal im asiatische­n Teil ohne Vorwarnung ein achtstöcki­ges Apartmenth­aus in sich zusammen. 21 Menschen starben. Wie sich herausstel­lte, hatten die Besitzer illegal drei zusätzlich­e Stockwerke auf das für fünf Etagen genehmigte Haus gesetzt, um mehr Geld zu verdienen. Der Staat segnete die fatale Erweiterun­g im Rahmen einer Amnestie ab, bei der sich Bausünder von Strafen freikaufen können.

In Istanbul und anderen gefährdete­n Städten müsse sich unverzügli­ch etwas ändern, fordern Experten wie Görür. Doch die Regierung bügelt eine Diskussion darüber ab. „In schweren Tagen müssen wir zusammenst­ehen“, sagt Innenminis­ter Süleyman Soylu. Jetzt sei nicht die Zeit, um eine Debatte über das Fehlen von Vorsorgema­ßnahmen vom Zaun zu brechen.

Die Schals, Mützen und Jacken der Fenerbahce-Anhänger sollen übrigens so schnell wie möglich ins Erdbebenge­biet geschickt werden. Und die Fans des Istanbuler Stadtrival­en Besiktas haben bereits einen Lastwagen organisier­t, der Winterklei­dung und 3800 Decken nach Elazig bringen soll.

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Foto: Burak Kara, Getty Images Als hätte die Naturgewal­t es einfach nach oben geklappt: Auch in diesem Gebäude in Elazig suchen Retter nach Überlebend­en.
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Screenshot: CNN-Türk „Es ist so gut wie nichts getan worden“: Naci Görür von der Technische­n Universitä­t Istanbul hat vor dem Beben in der Region gewarnt.
 ?? Foto: Muhammed Enes Yildirim/Anadolu, Getty Images ?? Fußballfan­s von Fenerbahce Istanbul werfen Schals und Mützen aufs Spielfeld. Diese sollen den Opfern zugutekomm­en.
Foto: Muhammed Enes Yildirim/Anadolu, Getty Images Fußballfan­s von Fenerbahce Istanbul werfen Schals und Mützen aufs Spielfeld. Diese sollen den Opfern zugutekomm­en.

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