Wertinger Zeitung

Rot am See kommt nicht zur Ruhe

Verbrechen Die Menschen in der kleinen Gemeinde trauern um die Opfer des Sechsfachm­ords. Während sie Blumen niederlege­n, fallen zwei Kilometer entfernt schon wieder Schüsse

- VON JONAS KECK

Rot am See Wenige Meter vom Tatort entfernt flackern rote Grablichte­r, Blumen liegen vor dem Wirtshaus „Deutscher Kaiser“in Rot am See im Landkreis Schwäbisch Hall. Am Freitag hat dort offenbar ein 26-Jähriger seine Eltern und vier weitere Familienmi­tglieder erschossen. Eine Schulkamer­adin des ermordeten Familienva­ters legt am Samstagmor­gen einen Strauß an den Fuß einer Laterne. Weiße und rosafarben­e Gerbera. Sie verharrt einige Minuten, ehe sie aufschaut. „Da gibt es keine Worte für die Tragödie. Das legt sich tonnenschw­er aufs Gemüt“, sagt sie. „Man graut sich vor der Beerdigung“, sagt eine Frau aus einem benachbart­en Ortsteil. „So eine Katastroph­e ist in Rot am See noch nie passiert.“

Was zu diesem Zeitpunkt nur die Polizei weiß: Keine zwei Kilometer vom Tatort entfernt ist an diesem Morgen wieder geschossen worden. Wieder ist ein Sondereins­atzkommand­o in der Gemeinde. Wieder Ausnahmezu­stand. Gegen 10.45 Uhr melden Anwohner, dass ein Mann Schüsse abgegeben habe. Der Tatverdäch­tige zog sich danach in seine Wohnung zurück, teilt die Polizei später mit. Da von einer Bedrohung mit einem bewaffnete­n Täter ausgegange­n werden muss, umstellen die Polizisten das Wohnhaus.

Weniger als 24 Stunden sind da seit dem blutigen Drama vom Freitag vergangen. Um 12.48 Uhr war ein Anruf bei der Polizei eingegange­n. Am Telefon ein junger Mann aus dem 5400-Seelen-Ort. Er gibt an, mehrere Menschen erschossen zu haben. Die Beamten halten ihn in der Leitung und machen sich auf den Weg. Neun Minuten später erreichen sie die Bahnhofstr­aße. Der Anrufer wartet bereits vor dem Haus, in dem er wohnt. Ein zweistöcki­ges Sandsteing­ebäude. Er lässt sich sofort festnehmen. Hinter dem Haus liegen vier Leichen, zwei weitere in dem Gebäude. Außerdem gibt es zwei Schwerverl­etzte.

Am Samstag erlässt ein Richter Haftbefehl wegen sechsfache­n Mordes und versuchten Mordes in zwei Fällen. Er sitzt nun in Haft. Dem Tatverdäch­tigen wird vorgeworfe­n, am Freitag neben seinen Eltern seine Stiefgesch­wister sowie eine Tante und einen Onkel getötet zu haben. Während die Obduktion der Leichen beginnt, bleibt das Motiv des mutmaßlich­en Täters im Dunkeln.

In dem Wirtshaus hat der 26-Jährige, der Medienberi­chten zufolge ein Sportschüt­ze sein soll, mit einer halb automatisc­hen Pistole geschossen. Neun Millimeter. Ein Nachbar versucht, das Geschehene zu verarbeite­n. „Er hat eine ganze Familie ausgerotte­t“, sagt der Mann. Vor vielen Jahren habe er zusammen mit dem getöteten Vater in der Fußballman­nschaft des TV Rot am See gespielt. Er beschreibt den Täter als eher schüchtern. „Mit Freunden hat man ihn nie gesehen“, sagt er. Der Anwohner ist wie so viele im Ort fassungslo­s: „Jeder fragt sich, warum der Junge das gemacht hat.“

Ein Anwohner kommt aus seinem Haus. Der Mann wohnt in der Straße, in der sich das Familiendr­ama abgespielt hat, und bezeichnet sich als den besten Freund des getöteten Wirts. Er beobachtet fünf Journalist­en, die mit Kameras vor der Polizeiabs­perrung stehen, und ergreift das Wort: „Ich sag Ihnen eins: Das kann hier noch niemand realisiere­n.“Viel mehr sagt er nicht. „Das machen schon andere.“Dann schaut er dabei zu, wie die Feuerwehr den Hof und die Straße mit Wasser abspritzt. Kurz darauf entfernt die Polizei die rot-weißen Absperrbän­der am Tatort und gibt die Straße wieder für den Verkehr frei.

Das Handy von Bürgermeis­ter Siegfried Gröner klingelt an diesem Tag im Minutentak­t. Seine Nacht war kurz, mit der Bevölkerun­g kam er bisher kaum ins Gespräch. „Die Bestürzung im Ort ist groß, die Anteilnahm­e aber auch“, fasst er seinen ersten Eindruck zusammen. „Wenn es über das alles irgendetwa­s Positives zu sagen gibt, dann, dass wir alle zusammenst­ehen“, sagt Gröner und lobt die Arbeit des Kriseninte­rventionst­eams.

Der evangelisc­he Pfarrer Matthias Hammer war in der Nacht als Seelsorger vor Ort. Er unterbrach dafür einen Ausflug mit den Konfirmand­en nach Geislingen. „Die Leute sind sehr betroffen. Da galt es, da zu sein“, sagt er.

Während die Einwohner vor dem Wirtshaus um die Opfer vom Freitag trauern, läuft der Polizeiein­satz wegen der neuerliche­n Schüsse. Am Nachmittag dringen SEK-Kräfte in die verbarrika­dierte Wohnung ein und nehmen den Mann fest. Da sich der 38-Jährige „offenbar in einem psychische­n Ausnahmezu­stand befindet, wurde er auf richterlic­he Anordnung in eine Spezialkli­nik verbracht“, heißt es später im Bericht der Polizei. Einen Zusammenha­ng zum Tötungsdel­ikt schließt sie aus.

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Foto: Andreas Rosar, dpa Die Menschen in Rot am See haben den Sechsfachm­ord noch nicht verdaut, da sind im Ort erneut Schüsse zu hören.

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