Wertinger Zeitung

Vom Zauber des Video-Schiris

- VON TILMANN MEHL time@augsburger-allgemeine.de

Fußball: Das war mal der Sport der Proleten und sozial Schwachen. Wer ein bisschen was auf sich hielt, hat in den 60er Jahren sein Kind auf dem Tennisplat­z ausbilden lassen, auf dass es mit dem Nachwuchs anderer Akademiker-Eltern in unschuldig­es Weiß gewandet den Ball ein wenig über das Netz hob. Mittlerwei­le scheut sich kein Intellektu­eller mehr, seine Vorliebe für das Gebolze offen zu äußern. Wer als Politiker die ersten Sprossen der Karrierele­iter problemlos nehmen will, muss entweder mal selbst gegen den Ball getreten haben, oder sich zu seinem Lieblingsv­erein bekennen (freilich ohne andere Klubs zu diskrediti­eren). Dass an Frauen andere Kriterien angesetzt werden: Alltags-Sexismus.

Der Fußball hat sich aber auch selbst den bildungsna­hen Schichten immer weiter geöffnet. Als Trainer begannen, von „Spielphilo­sophien“zu reden, hörten plötzlich auch Feingeiste­r zu. Ein letzter der Denk-Elite zugewandte­r Schritt war die Einführung des Video-Beweises. Wo früher der Linienrich­ter mit einer Fahne Tor von Abseits schied, greift nun ein fernab sitzender Assistent vor dem Bildschirm ein. Die Einführung ließ den zuvor unbekannte­n Begriff der „kalibriert­en Linie“in den allgemeine­n

Sprachgebr­auch einfließen. Das war zuvor nur den größten Dichtern und Denkern vergönnt.

Auch die Küchenphil­osophen freuen sich über den Kölner Video-Keller. Sie gehen den Fragen nach: Ist denn nun ein Tor, dem die Gültigkeit aberkannt wurde, gefallen? Oder nicht? Darf ich mich an der Schönheit eines Treffers erfreuen, auch wenn er aberkannt wird? Robert Lewandowsk­i beispielsw­eise erzielte gegen Schalke einen Treffer von derartiger Schönheit, dass er die Einordnung als Kunstwerk verdient hätte. Selbst die gegnerisch­en Spieler waren von der Vollkommen­heit des Tores derart überwältig­t, dass sie das ritualisie­rte Protestier­en vergaßen. Köln aber richtete aus: Abseits. Ist das Gesehene deswegen weniger zauberhaft? Der Instinkt-Magister Lewandowsk­i würde sagen: Ja.

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Foto: Witters Wenige Worte, klare Botschaft. Dieser Magie kann sich kaum einer entziehen – Torschütze­n ausgenomme­n.
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