Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (16)

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Geh hin!

Ja, sofort.

Und es kommen neue Wolken, schwärzere, größere. Sie haben keine silbernen Ränder und decken die Erde zu. Der Himmel ist weg, ich sehe nichts mehr.

Ich lausche, aber es gehen nur Schritte durch den Wald. Ich halte den Atem an.

Wer geht?

Oder ist es nur der Sturm von droben?

Ich kann mich selber nicht mehr sehen.

Wo seid ihr, Adam und Eva? Im Schweiße eueres Angesichte­s solltet ihr euer Brot verdienen, aber es fällt euch nicht ein. Eva stiehlt einen photograph­ischen Apparat, und Adam drückt beide Augen zu, statt zu wachen.

Ich werd es ihm morgen sagen, diesem Z, morgen in aller Frühe, daß ich es war, der sein Kästchen erbrach.

Morgen laß ich mich durch nichts mehr hindern!

Und wenn mir der liebe Gott tausend nackte Mädchen schickt! Immer stärker wird die Nacht. Sie hält mich fest, finster und still. Jetzt will ich zurück. Vorsichtig taste ich vor –

Mit der vorgestrec­kten Hand berühre ich einen Baum. Ich weiche ihm aus.

Ich taste weiter – da, ich zucke entsetzt zurück!

Was war das?!

Mein Herz steht still.

Ich möchte rufen, laut, laut – aber ich beherrsche mich.

Was war das?!

Nein, das war kein Baum!

Mit der vorgestrec­kten Hand faßte ich in ein Gesicht. Ich zittere. Wer steht da vor mir?

Ich wage nicht mehr, weiterzuge­hen.

Wer ist das?!

Oder habe ich mich getäuscht? Nein, ich hab es zu deutlich gefühlt: die Nase, die Lippen.

Ich setze mich auf die Erde.

Ist das Gesicht noch dort drüben?

Warte, bis das Licht kommt! Rühre dich nicht!

Über den Wolken raucht der Mann im Mond.

Es regnet leise.

Spuck mich nur an, Mann im Mond!

Zwanzigste­s Kapitel

Der vorletzte Tag

Endlich wird es grau, der Morgen ist da.

Es ist niemand vor mir, kein Gesicht und nichts.

Ich schleiche mich wieder ins Lager zurück. Der Feldwebel liegt auf dem Rücken mit offenem Mund. Der Regen klopft an die Wand. Erst jetzt bin ich müde. Schlafen, schlafen.

Als ich erwache, ist das Regiment bereits fort. Ich werde es dem Z sagen, daß ich es war und nicht der N, sowie er zurückkomm­t.

Es ist der vorletzte Tag. Morgen brechen wir unsere Zelte ab und fahren in die Stadt zurück.

Es regnet in Strömen, nur manchmal hört es auf. In den Tälern liegen dicke Nebel. Wir sollten die Berge nimmer sehen.

Mittags kommt das Regiment zurück, aber nicht komplett.

Der N fehlt.

Er dürfte sich verlaufen haben, meint der Feldwebel, und er würde uns schon finden.

Ich muß an die Höhlen denken, die im Tagebuch des Z stehen, und werde unsicher.

Ist es Angst?

Jetzt muß ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich höchste Zeit!

Der Z sitzt in seinem Zelte und schreibt.

Er ist allein.

Als er mich kommen sieht, klappt er rasch sein Tagebuch zu und blickt mich mißtrauisc­h an.

„Ach, wir schreiben wieder unser Tagebuch“, sage ich und versuche zu lächeln.

Er schweigt und blickt mich nur an. Da sehe ich, daß seine Hände zerkratzt sind.

Er bemerkt, daß ich die Kratzer beobachte, zuckt etwas zusammen und steckt die Hände in die Taschen.

„Frierts dich?“frage ich und lasse ihn nicht aus den Augen.

Er schweigt noch immer, nickt nur ja, und ein spöttische­s Lächeln huscht über sein Gesicht.

„Hör mal“, beginne ich langsam, „du meinst, daß der N dein Kästchen erbrochen hat.“

„Ich meine es nicht nur“, fällt er mir plötzlich fest ins Wort, „sondern er hats auch getan.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Er selbst hat es mir gesagt.“

Ich starre ihn an. Er selbst hat es gesagt?

Aber das ist doch unmöglich, er hat es doch gar nicht getan!

Der Z blickt mich forschend an, doch nur einen Augenblick lang. Dann fährt er fort: „Er hats mir heut vormittag gestanden, daß er das Kästchen geöffnet hat. Mit einem Draht, aber dann könnt er es nicht wieder schließen, denn er hat das Schloß ruiniert.“

„Und?“

„Und er hat mich um Verzeihung gebeten, und ich habe ihm verziehen.“

„Verziehen?“

„Ja.“

Er blickt gleichgült­ig vor sich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus, und es fällt mir wieder ein: „Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!“Unsinn, Unsinn!

„Weißt du, wo der N jetzt steckt?“frage ich plötzlich. Er bleibt ganz ruhig.

„Woher soll ich das wissen? Sicher hat er sich verirrt. Ich hab mich auch schon mal verirrt.“

Er erhebt sich, und es macht den Eindruck, als würde er nicht mehr weiterrede­n wollen. Da bemerke ich, daß sein Rock zerrissen ist.

Soll ich es ihm sagen, daß er lügt? Daß der N es ihm niemals gestanden haben konnte, denn ich, ich habe doch sein Tagebuch gelesen.

Aber warum lügt der Z? Nein, ich darf gar nicht daran denken!

Warum sagte ich es ihm nur nicht sofort, gleich gestern, als er den N verprügelt­e! Weil ich mich schämte, vor meinen Herren Schülern zu gestehen, daß ich heimlich mit einem Draht ein Kästchen erbrochen hab, obwohl dies in bester Absicht geschehen ist – verständli­ch, verständli­ch! Aber warum verschlief ich nur heute früh?!

Richtig, ich saß ja in der Nacht im Wald und machte das Maul nicht auf! Und jetzt, jetzt dürfte es wenig nützen, wenn ich es aufmachen würde. Es ist zu spät. Richtig, auch ich bin schuld. Auch ich bin der Stein, über den er stolperte, die Grube, in die er fiel, der Felsen, von dem er hinunterst­ürzte.

Warum hat mich heut früh nur niemand geweckt?! Ich wollte mich nicht unschuldig verurteile­n lassen und schlief, statt mich zu verteidige­n. Mit meinem freien Willen wollte ich einen dicken Strich durch eine Rechnung machen, aber diese Rechnung war bereits längst bezahlt. Ich wollte uns alle retten, aber wir waren bereits ertrunken.

In dem ewigen Meer der Schuld. Doch wer ist denn schuld, daß das Schloß verdarb.

» 17. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird…
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird…

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