Missbrauch: Aufklärung läuft nur schleppend
Kirche Vor zehn Jahren kam der Skandal ins Rollen. Experten und Gläubige sind enttäuscht
Augsburg/Berlin Zehn Jahre ist es her, seit die katholische Kirche in Deutschland in ihren Grundfesten erschüttert wurde und sich ein Skandal zum alles bestimmenden Thema entwickelt hat: Am 28. Januar 2010 wurden zahlreiche Missbrauchsfälle am katholischen Elitegymnasium Canisius-Kolleg in Berlin aus den 1970er und 80er Jahren bekannt. Danach kamen deutschlandweit viele weitere Fälle ans Licht. Trotz des großen öffentlichen Drucks verläuft die Aufarbeitung allerdings schleppend, kritisieren Experten und Betroffene.
„Wir sind noch längst nicht am Ende“, sagt die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Sabine Andresen. Nach wie vor sei die Politik nicht entschieden genug, auch wirklich von allen Institutionen Aufarbeitung, Schutzkonzepte und die Anerkennung der Rechte von Kindern und Jugendlichen konsequent einzufordern. Auch Ekin Deligöz, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes, sieht noch Handlungsbedarf. „Die Folgen von sexueller Gewalt in Institutionen müssen anerkannt und notwendige Hilfen bereitgestellt werden“, sagt die Grünen-Politikerin unserer Redaktion. „Zugleich ist die Aufarbeitung ein notwendiger Baustein für Prävention, die übrigens noch längst keine Selbstverständlichkeit ist.“Deligöz gibt allerdings auch zu bedenken, dass Missbrauch keineswegs nur ein Problem der Kirche sei. „Ein großer Teil von sexueller Gewalt gegen Kinder geschieht in der Familie oder im erweiterten Bekanntenkreis“, sagt Ekin Deligöz. „Betroffenen Kindern wird allzu oft nicht geglaubt, es wird weggeschaut und relativiert.“
Im Jahr 2016 setzte die Bundesregierung die Unabhängige Kommission ein, um Missbrauch in allen gesellschaftlichen Bereichen aufzuklären, von der Kirche über den Sportverein bis in die Familie. Rund 1600 Betroffene haben dort in Anhörungen oder schriftlich ihre Erlebnisse geschildert. Eine von der Kirche selbst in Auftrag gegebene Untersuchung war 2018 zu dem Ergebnis gekommen, dass seit 1946 in ihrem Bereich 3677 Minderjährige von sexuellem Missbrauch betroffen waren. Aktivisten vermuten allerdings, dass viel mehr Kinder missbraucht wurden und fordern, dass unabhängigen Experten Zugang zu den Kirchenakten gewährt wird.
Besonders scharfe Kritik übt in diesem Zusammenhang der Kriminologe Christian Pfeiffer. Er hat an einer großen Studie zum Missbrauchsskandal gearbeitet. Doch besonders im Bistum München/ Freising sei der Wille zu echten Konsequenzen nicht vorhanden gewesen. „Kardinal Reinhard Marx hat mit all seiner Macht dafür gesorgt, dass wir nicht forschen konnten“, sagt Pfeiffer. Dadurch seien Transparenz und eine Kultur der Verantwortung verhindert worden. Tatsächlich wurde in Bayern in keinem einzigen Fall Anklage erhoben. „Ansonsten aber gehe ich davon aus, dass Priester heute nicht gefährlicher sind als etwa Sportlehrer“, sagt Pfeiffer. „Missbrauch durch Priester ist in den 50er bis 70er Jahren auch deshalb extrem häufig vorgekommen, weil diese Männer wegen der rigiden Sexualmoral und der Strafbarkeit der Homosexualität große Probleme dabei hatten, ihren Wunschpartner zu finden, wenn sie trotz des Zölibats ein Sexualleben anstrebten.“
Unterdessen steuert die Zahl der Kirchenaustritte auf ein Rekordniveau zu. 2018 traten in Bayern 64000 Menschen aus der katholischen und 28000 aus der evangelischen Kirche aus. Deutschlandweit hatten 216000 Menschen im Jahr 2018 die katholische Kirche verlassen. Das sind 48 500 Austritte mehr als 2017.