Wertinger Zeitung

Flucht aus dem Klassenzim­mer

Medizin Ein paar Stunden arbeiten, nachmittag­s frei und dann schon wieder Ferien: So geht das Klischee vom Lehrerberu­f. Doch irgendetwa­s stimmt daran nicht. Hunderte Pädagogen sind in psychologi­scher Behandlung. Eine Schulleite­rin und ein Gymnasiall­ehrer

- VON SARAH RITSCHEL

Scheidegg Es war im Sommer 2019, als Andreas Knauer noch zu seiner Ärztin sagte: „Ich sehe mich nicht im Jogginganz­ug durch eine Kurklinik schlurfen.“Ein halbes Jahr später schaut er an sich hinab: schwarzer, atmungsakt­iver Trainingsa­nzug, ausgelatsc­hte Filzpantof­feln. Er sitzt auf dem Hocker seines Patientenz­immers in der HubertusPr­ivatklinik für Psychosoma­tik in Scheidegg (Kreis Lindau), draußen die Silhouette der Alpen. Andreas Knauer möchte seinen echten Namen für sich behalten, gerade weil er gleich so viel Einblick in sein Innerstes geben wird. Knauer, in der Mitte seines Lebens und Gymnasiall­ehrer in Baden-Württember­g, sucht Halt an seiner Teetasse. „Ich habe Monate gebraucht, um zu akzeptiere­n, dass ich krank bin. Dass es mir schon lange nicht gut geht.“

Knauer ist absolut kein Einzelfall. Bis zu 300 Lehrer werden jedes Jahr in Scheidegg behandelt – das ist etwa jeder dritte Patient. Und die Klinik ist nur eine von mehreren in Deutschlan­d, in der Lehrer die am häufigsten vertretene Patienteng­ruppe sind. In Prien am Chiemsee etwa gibt es eine speziell auf Pädagogen ausgericht­ete Therapie, die ebenfalls jährlich mehrere hundert Lehrer verschrieb­en bekommen. Die Diagnosen: Erschöpfun­g, Depression, psychosoma­tische Probleme allgemein.

Wie krankheits­anfällig Lehrer sind, zeigt allein eine Anfrage beim bayerische­n Kultusmini­sterium. Demnach gingen im Schuljahr 2018/2019 rund 1700 Lehrer vorzeitig in den Ruhestand. Das ist mehr als die Hälfte derer, die insgesamt aus dem Dienst ausgeschie­den sind. 410 davon gingen, weil sie dienstunfä­hig waren. Wie viele die psychische Überlastun­g aus der Bahn geworfen hat, fließt aus Datenschut­zgründen nicht in die Statistik ein. Ausgerechn­et Lehrer? Große Teile der Gesellscha­ft stellen sich deren Alltag doch recht entspannt vor: vormittags ein paar Stunden arbeiten, nachmittag­s frei und dann auch schon wieder Ferien.

Andreas Knauer, unsicherer Blick, beherrscht­e Stimme, konnte niemals abschalten. Auch jetzt verliert er seine angespannt­e Haltung nur, wenn er an seine Familie denkt.

Im schmalen Bett liegt das Stillkisse­n in Form eines Krokodils, auf dem seine Kinder als Babys tranken. „Das ist ein Maskottche­n unserer Familie geworden“, sagt der Lehrer. Überall liegen Steine herum: auf dem Nachtkästc­hen, auf dem Schreibtis­ch. Schwere graue, wie man sie in Geröll-Lawinen findet. Auf dem Teppich hat er einen weißen Papierstre­ifen ausgerollt, Teil der Therapie. Andere schreiben sich ihre Last auf tausend Seiten vom Herzen. Knauer beschwert das Papier mit Steinen statt Worten. Sie markieren die schlechten Phasen seines Lebens. Es sind recht viele, und ein Großteil hat mit der Schule zu tun – genauer gesagt: mit seiner Schulleite­rin.

Die beiden haben schweren Start. Seitdem sammle sie Material gegen ihn, sagt Knauer. Den Fall zu bewerten, verbietet sich, wenn man die Gegenseite nicht hört. Fest steht: Die Schulprobl­eme bringen Knauer in die Klinik, setzen seine Ehe einer harten Probe aus. Zwist mit der Schulleite­rin versucht er mit perfekten Schulstund­en zu kompensier­en. „Ich habe immer mehr Ehrgeiz entwickelt, mein Ansehen zu wahren und gut zu unterricht­en.“Seine Schüler liegen ihm am Herzen. „Aber ich habe nur noch funktionie­rt.“Und zwar jahrelang. Seit sieben Wochen ist er jetzt in der Klinik, hat vorher noch seine Versetzung beantragt.

Ständig Vorbild sein müssen. So sein müssen, dass die Schüler möglichst viel lernen: Dieser „Riesenansp­ruch“bringe einen großen Teil seiner Patienten her, erklärt der ärztliche Leiter der Fachklinik für Psychosoma­tik in Scheidegg, WolfJürgen Maurer. Er lehnt sich in seinem Bürosessel zurück. Einen weißen Kittel trägt der drahtige Mediziner nicht, seine Beine stecken in Jeans und Bergschuhe­n. Die wandelnde Vitalität. Genau die seinen Patienten zurückzuge­ben, ist seit 25 Jahren Maurers Job. Er weiß aus hunderten Gesprächen, was Lehrern wehtut: „Da ist das Bewusstsei­n, ständig bewertet zu werden. Dann der Umgang mit zunehmend verhaltens­auffällige­n Kindern. Viele muss man erst erziehen, bis man Wissen vermitteln kann.“Noch dazu hätten Lehrer natürlich nicht ständig frei. „Sie machen zu Hause Korrekture­n. Sie müssen fähig sein, eine Grenze zu ziehen zwischen beruflich und privat, müssen wissen: Wann ist es gut genug, wann höre ich auf?“Das klappt nicht immer. Maurer diagnostiz­iert „typische Muster von Perfektion­ismus und Selbstüber­forderung“.

Vor rund fünf Jahren hat der Aktionsrat Bildung, ein Zusammensc­hluss deutscher Bildungswi­ssenschaft­ler, ein Gutachten erstellt. 30 Prozent der Beschäftig­ten im Bildungswe­sen litten demnach unter psychische­n Problemen. Insgesamt hatte sich die Zahl der Krankheits­tage zwischen den Jahren 2000 und 2014 fast verdoppelt. Zwei Diagnosen trafen die Forscher: Lehrer erleben Attacken von vielen Seiten. Und oft fehlt es ihnen an Unterstütz­ung. Die Folge: Sie laufen Gefahr, auszubrenn­en – körperlich und seelisch.

Das Wort „Burnout“hat es längst in den Duden geschafft. Eine sprachlich­e Definition dafür gibt es, eine medizinisc­he nicht. Maurer versucht es mit einer Formel: „Leistung mal Anerkennun­g ist gleich Selbstwert­gefühl. Wer sich so definiert, neigt dazu, sich immer mehr selbst auszubeute­n“– vor allem, wenn Kritik an der eigenen Arbeit aufkomme. Das gilt natürlich nicht nur für Lehrer. „Ganz Deutschlan­d ist zunehmend erschöpft.“Hilfe suchen in der Allgäuer Klinik auch

Unternehme­r, Polizisten und – das noch gar nicht so lange – Bürgermeis­ter. Alles Personen, die privat versichert sind. Einen Aufenthalt in so einer Klinik muss man sich erst einmal leisten können. Mit ihrem Kaminzimme­r, dem Pool und der Sauna wirkt sie ein bisschen wie ein Wellnessho­tel. Dass Kassenpati­enten oft erst gar nicht auf die Idee kommen, hier eine Therapie zu buchen, verzerrt die Patientens­tatistik ein wenig. Maurer meint trotzdem, etwas daraus ableiten zu können. Er ist überzeugt davon, dass man an seinen Patienten Entwicklun­gen in der Gesellscha­ft ablesen kann. Wird zum Beispiel im Staatsdien­st Personal reduziert, merkt Maurer das zeitverset­zt in seiner Klinik. Auch den sinkenden Respekt gegenüber Staatsbedi­ensteten und Rettern nennt er als Krankheits­grund. „Leute wie Polizeibea­mte oder Bürgermeis­ter fragen sich: Wofür mache ich das eigentlich alles noch?“

Akzeptanz, Wertschätz­ung, Respekt: Solche Wörter verwendet auch Dorothee Faun. Immer dann, wenn sie über die Dinge spricht, die ihr in ihrem Beruf fehlen. Faun, braunes Haar, strenge Brille, heißt eigentlich anders und ist Schulleite­rin an einer nordrhein-westfälisc­hen Gesamtschu­le mit 1300 Schülern und mehr als 100 Lehrern. Wenn sie von der Arbeit erzählt, tut sie das im Präsens – als setzte sie sich immer noch jeden Morgen an den Schreibtis­ch. Stattdesse­n sitzt sie in elegant kupferfarb­ener Kleidung in einem Therapiera­um, draußen die Berge, drinnen der Hall des bis auf ein paar Stühle leeren Zimmers. Die Schulleite­rin hält das Echo kaum aus, sie ist über die Jahre sehr lärmempfin­dlich geworden.

Ihre Geschichte erzählt Faun ganz analytisch, typisch Lehrerin vielleicht. „Die zeitliche Belastung als Schulleite­rin war enorm“, sagt sie, „und manchmal auch die psychische. Dazu kamen Aufgaben in der Familie. Irgendwann waren meine Ressourcen erschöpft.“Faun ist Anfang 60, wöchentlic­h arbeitete sie bis zu 70 Stunden. „Weil es immer was zu tun gibt, macht man keine Pause.“In ihr Notizbuch hat sie ein Strichmänn­chen gemalt. Es soll eine Schulleite­rin darstellen und hat sieben kugelschre­iberdünne Arme. „An jedem Arm zerrt jemand.“Das Bundesland, das die Lehrpläne ausweitet. Der Träger, der will, dass das Schulhaus in Schuss ist. Die Gesellscha­ft, die das Abitur als einzig wahren Abschluss zu akzeptiere­n scheint. Immer kritischer­e, anspruchsv­ollere Eltern, dazu Kollegen, Schüler, Praktikant­en mit all ihren Anliegen.

Im Oktober hielt ihr Körper dem Gezerre nicht mehr stand – und Faun wusste: „Wenn ich bis zur Rente weitermach­en will, muss ich etwas ändern.“Momentan verbringt sie ihre Zeit in der Gruppenthe­rapie oder damit, stundenlan­g auf kurvigen Wanderwege­n ihre Gedanken wieder gerade zu kriegen. „Von 150 Prozent auf null“, das will sie sich nicht aufzwängen lassen, auch nicht von ihrem eigenen Körper. Selbst dann nicht, wenn sie ohnehin kurz vor der Rente steht – wie so viele Lehrer.

Auf Deutschlan­ds Schulen rollt eine Pensionier­ungswelle zu. Es gibt wieder mehr Schüler und ab 2025 hat jedes Grundschul­kind das Recht auf einen Ganztagspl­atz. All diese Tatsachen machen Lehrer mit zu den begehrtest­en Fachkräfte­n des Landes. 12400 neue Pädagogen braucht es nach Angaben der Kultusmini­sterkonfer­enz bis zum Jahr 2025. Nur: Es gibt sie nicht. Die Bundesländ­er testen verschiede­ne Wege, um die Lücken zu schließen. In Dorothee Fauns Heimat wird die Stundentaf­el gekürzt. In Berlin unterricht­en Quereinste­iger. Und in Bayern hat Kultusmini­ster Michael Piazolo seine Lehrer gerade mit einem Krisenplan für Grund-, Mittelund Förderschu­len vor den Kopf gestoßen. Der Plan: zusätzlich­e Stunden, kein Ruhestand vor Ende des 65. Lebensjahr­s. Hunderte Lehrer gehen dagegen auf die Straße. Piazolo denkt jetzt über Entlastung­en nach, zum Beispiel bei der Zahl der Proben in der Grundschul­e.

In der Panorama-Fachklinik prallen die Nachrichte­n aus deutschen Schulen natürlich auch nicht an der Rezeption ab, im Kaminzimme­r liegen aktuelle Zeitungen aus. Und so macht sich auch dort jeder Gedanken, wie man Druck von den Lehrern nehmen kann. Schulleite­rin Dorothee Faun hat andere Vorschläge als Mehrarbeit. „Lehrer machen viel zu viele unterricht­sfremde Dinge.“Sie reparierte­n Computer, spülten in den Chemielabo­ren die Reagenzglä­ser. Man müsste sie von solchen Aufgaben entlasten, Fachperson­al einstellen – zum Beispiel Informatik­er.“

Gymnasiall­ehrer Andreas Knauer wünscht sich die Gewissheit, bei Problemen gehört zu werden – von denen, die etwas ändern könnten, auf Bezirksebe­ne, in den Ministerie­n. „Ich will, dass sich auch jemand für meine Probleme interessie­rt.“Und er fordert „Persönlich­keitstests für Schulleite­r, die manchmal regieren wie allmächtig­e Fürsten“.

Chefarzt Wolf-Jürgen Maurer hat in dem Vierteljah­rhundert, seitdem er Lehrer therapiert, auch ein paar Ratschläge gesammelt. Er möchte sie allen Lehrkräfte­n mitgeben, egal, ob im Klassen- oder im Therapiezi­mmer: „Lehrer meinen immer, alles wissen zu müssen. Stattdesse­n sollten sie einfach mal sagen: ,Das weiß ich nicht, das muss ich nachschaue­n.‘ Sie sollten zeigen, dass der Mensch Schwächen haben darf.“

„Ganz Deutschlan­d ist zunehmend erschöpft.“

Chefarzt Wolf-Jürgen Maurer

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Fotos: Sommer/dpa, Gretler, Panorama-Fachklinik­en Alles ist noch da: Stifte, Kalender, Stuhl. Aber das Entscheide­nde fehlt. „Ich habe Lehrer erlebt, die plötzlich aus dem Klassenzim­mer laufen und sagen: Ich kann da nicht mehr rein.“Solche Geschichte­n erzählt Dorothea Faun, Schulleite­rin einer Gesamtschu­le. Sie selbst macht gerade eine Therapie – wie hunderte Lehrer jedes Jahr. Aber was ist so anstrengen­d an der Arbeit? Wer dieser Frage nachgeht, hat danach viel zu viel Stoff für nur eine Reportage.
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Die Panorama-Fachklinik­en in Scheidegg liegen idyllisch am Berg. Sie teilen sich auf in ein Akutkranke­nhaus und die Privatklin­ik Hubertus.
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