Wertinger Zeitung

Wie Missbrauch­sopfer ihr Leben lang leiden

Hintergrun­d Als der Missbrauch­sskandal vor zehn Jahren ins Rollen kam, erschütter­te er zuerst die katholisch­e Kirche. Dann wurde immer deutlicher: Das Problem reicht weit über die Kirche hinaus. Betroffene erzählen ihre Geschichte

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Berlin Matthias Katsch war 13, als es losging. Der Sportlehre­r, ein Jesuit, misshandel­te ihn immer wieder stundenlan­g mit Schlägen auf den nackten Hintern. Der Lehrer sprach von einer Erziehungs­maßnahme mit Heilwirkun­g. Dass hier ein Sadist Befriedigu­ng suchte, ahnte Katsch, der damals am katholisch­en Canisius-Kolleg in Berlin zur Schule ging, nicht. Jahrelang hat der heute 56-Jährige diese Dinge „weggepackt in den hintersten Winkel“, wie er sagt. Seit zehn Jahren führt der studierte Philosoph und Management­trainer nun einen politische­n Kampf.

Katsch kämpft für Aufarbeitu­ng, Entschädig­ung und mehr Kinderschu­tz – unter anderem als Mitglied der Unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs, als Chef der Betroffene­ninitiativ­e „Eckiger Tisch“und als Buchautor. „Wir waren ja damals Kinder“, sagt er. „Und wenn du nicht gleich gesprochen hast: Die Hürde nach einer Woche, einem Monat oder einem Jahr, die wird immer höher. Wie soll man das erklären, dass man sich nicht sofort gewehrt hat und nicht sofort Hilfe gerufen hat?“So erklärt er, warum viele Betroffene erst sehr viel später oder nie über das Erlittene sprechen. Die Unabhängig­e Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs bietet seit 2016 diesen Menschen die Möglichkei­t, anonym gehört zu werden. Mehr als 1500 Betroffene haben inzwischen über die schlimmen Ereignisse ihrer Kindheit berichtet. Einige davon sprechen auch öffentlich darüber, um anderen Mut zu machen.

Die 62-jährige Maria Winter lebt heute in Frankreich im Grenzgebie­t zu Baden-Baden. Bei ihr beginnt der Missbrauch schon im Kleinkinda­lter. Die Täter kommen aus dem Umfeld der Familie. Später wird sie immer wieder vom eigenen Vater vergewalti­gt. Als Jugendlich­e bleibt ihr nur die Flucht in die Obdachlosi­gkeit. Sie fühlt sich „wie vertrieben aus dem eigenen Leben“, erzählt sie heute. Jahrelang leidet Maria Winter unter den Folgen, es gibt Suizidvers­uche. „Ich habe immer gedacht: Ich bin zu nichts gut, ich kann nichts und tauge nichts.“Mit Hilfe einer Traumather­apie lernt sie später mit dem, was geschehen ist, umzugehen und zu leben.

Mit 40 gelingt es ihr, einen Abschluss zur Arbeitspäd­agogin zu machen. Die 62-Jährige hat das Gefühl, dass das Thema Kindesmiss­brauch heute in der Gesellscha­ft ernster genommen wird als vor zehn

Jahren. „Aber wir müssen noch sehr viel mehr tun.“Kinderschu­tz sei extrem wichtig. „Aber wir dürfen auch die Betroffene­n nicht vergessen, die jetzt älter werden und vielleicht bald ins Pflegeheim müssen.“

Die 46-jährige Katarina Sörensen lebt in Bremen und wurde als Jugendlich­e in den neunziger Jahren von einem evangelisc­hen Pfarrer missbrauch­t. Es beginnt, als sie 14 ist, mit Küssen und Liebesschw­üren. Dabei bleibt es nicht. Am Ende stehen Manipulati­on und emotionale Erpressung. Sie kommt von dem Pfarrer nicht los, einem dreißig Jahre älteren Familienva­ter, der ihre emotionale Bedürftigk­eit ausnutzt.

„Es ist manchmal für die Betroffene­n schwer zu erkennen, wie schlimm das ist, was passiert ist“, berichtet Sörensen heute. Vor allem, wenn nicht direkt körperlich­e Gewalt im Spiel ist. Die Täter wickeln die Betroffene­n ein und manipulier­en sie. „Und es ist schwer, sich selbst daraus zu befreien.“Die 46-jährige Linguistin hat sich ein Pseudonym zugelegt, möchte nicht erkannt werden. Dennoch will sie ihre Geschichte immer wieder erzählen: „Man spricht für die, die nicht sprechen“, sagt sie.

Der 58-jährige Martin Schmitz aus Rhede in Nordrhein-Westfalen hat als Möbeldesig­ner Karriere gemacht. Aufgewachs­en ist er in einem strengen katholisch­en Elternhaus. Es gibt oft Prügel. Mit neun wird er Ministrant. Beim Umziehen für das Messediene­n kommt es zu merkwürdig­en Umarmungen durch den Pfarrer, irgendwann zu Küssen, in die Hose greifen. Auf einer Kinderfrei­zeit in den Sommerferi­en kommt der Pfarrer zu ihm ins Bett.

Die Übergriffe gehen im Pfarrhaus und im Jugendheim weiter. „Als Kind habe ich mit niemandem darüber geredet. Wenn ich davon zu

Hause erzählt hätte, es wäre mir nicht geglaubt worden und ich hätte Prügel bekommen.“Als Jugendlich­er und junger Erwachsene­r verdrängt Schmitz den Missbrauch. Mit Ende dreißig, als er verheirate­t ist und seine zwei Söhne geboren werden, kommt aber alles wieder: Er bekommt Albträume, Flashbacks, Krampfanfä­lle, Depression­en und Suizidgeda­nken. Nur der Gedanke an seine Familie und eine Therapie helfen ihm heraus. „Die Bereitscha­ft in der Öffentlich­keit, überhaupt über diese Thematik zu reden, ist deutlich besser geworden“, sagt er heute. Die Politik solle aber endlich aufhören, die Kirche mit Samthandsc­huhen anzufassen.

Die 51-jährige Claudia Mönius lebt als Buchautori­n in Nürnberg. Sie ist gerade elf, als der katholisch­e Pfarrer ihrer Heimatgeme­inde sich zum ersten Mal an ihr vergeht. Mehrmals die Woche über Jahre wird sie missbrauch­t. Aufgetrete­n sei der Pfarrer wie ein Vater. Mönius ist heute überzeugt: Emotionale Vernachläs­sigung in ihrem Elternhaus spielte eine Rolle. „Der Pfarrer nutzte das aus. Ich fühlte mich verliebt in den Herrn Pfarrer.“

Mönius berichtet von emotionale­r Verwirrung und einem Gefühl, dass etwas nicht richtig sei. Auch sie muss später eine Therapie machen, leidet an Depression­en. „Meine Beziehungs­fähigkeit war völlig zerstört. Ich konnte mich einfach nur noch in alte und vergebene Männer verlieben. Es war immer das gleiche Muster und ich war wahnsinnig unglücklic­h.“Der Heilungswe­g sei unendlich mühsam gewesen. „Ich bin nun seit fünf Jahren glücklich verheirate­t mit einem annähernd gleichaltr­igen Mann. Ich hab mir immer Kinder gewünscht, aber es war dann zu spät.“Jörg Ratzsch, dpa

Warum das Brechen langen Schweigens schwerfäll­t

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Betroffene erzählen von ihrem Trauma und lebenslang­en Folgen: Matthias Katsch (links), Claudia Mönius und Martin Schmitz.
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Fotos: Stephanie Pilick; dpa, Jens Krick, Imago Images
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