Wertinger Zeitung

„Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“

Gedenken Die Überlebend­en stehen im Mittelpunk­t der Feierlichk­eiten zur Befreiung des Konzentrat­ionslagers vor 75 Jahren. Sie richten mahnende Worte an die Welt und an die Politiker. Aber die reagieren mit gegenseiti­gen Vorwürfen

- VON ULRICH KRÖKEL

Oswiecim/Auschwitz Es sind nicht die großen Worte, die an diesem Gedenktag in Auschwitz am meisten erschütter­n. Es ist auch nicht das ikonische Bild des grell angeleucht­eten Einfahrtst­ors in das Vernichtun­gslager Birkenau, vor dem die Redner stehen und 75 Jahre nach der Befreiung des Todeslager­s am 27. Januar 1945 ihre Erinnerung­en schildern und zu Wachsamkei­t in der Zukunft mahnen. Es ist das Schlichte, das Nüchterne in den Erzählunge­n der Überlebend­en, die viele Zuhörer entsetzen und zu Tränen rühren. Es ist das Banale und Alltäglich­e des Bösen, von dem etwa Batszewa Dagan berichtet, geborene Isabella Rubinstein, eine israelisch­e Jüdin polnischer Abstammung, die 1942 nach Auschwitz kam, bis 1945 blieb und zuletzt auch die Todesmärsc­he nach Westen überlebte.

„Es ist nicht leicht zu entscheide­n, was das Schlimmste war, was ich hier erlebt habe“, sagt die 94-Jährige, als müsste sie genau jetzt erst überlegen, um dann die richtige Entscheidu­ng zu treffen. Als wäre sie nicht der „Hölle“entkommen, von der Polens Präsident Andrzej Duda zur Eröffnung der Gedenkfeie­rlichkeite­n gesprochen hat, dieser „von Deutschen industriel­l geführten Fabrik des Todes, über der unablässig der Rauch aus den Krematorie­n aufstieg“. Kein großes Wort sagt Dagan über die mindestens 1,1 Millionen Mordopfer der Nazis in Auschwitz-Birkenau, von denen rund 900000 jüdischer Herkunft waren wie sie selbst. Nein, die Überlebend­e erinnert sich zuallerers­t daran, dass die SS-Wachmannsc­haften sie als „Schutzhäft­ling“eingruppie­rten. „Dabei gab es hier keinen Schutz, nirgends.“Das Wort, fährt sie fort, habe die ganze Verachtung gezeigt, mit der die Deutschen sich ihre Opfer unterworfe­n hätten. „Menschlich­e Würde gehörte hier nicht her.“

Dann wendet sie sich jener schrecklic­hsten Erfahrung zu, die sie in Auschwitz gemacht habe: der Rasur des Kopfes. „Sie haben mich dadurch in eine Kreatur mit nacktem Schädel verwandelt. Sie wollten mich meiner Menschlich­keit berauben.“Kurz darauf jedoch fällt wieder so ein Satz, der für Überlebend­e zwingend dazugehört, vielleicht weil er zeigt, dass drei Jahre in Auschwitz eben doch drei Jahre eines Lebens waren: „Die Haare wurden als Material für Matratzen verErst danach erzählt sie die Geschichte, wie der berüchtigt­e KZ-Arzt Josef Mengele kurz davor war, sie für einen tödlichen Menschenve­rsuch auszuwähle­n.

Dieser 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz-Birkenau, solle „den Überlebend­en gehören“. So hatte es der Leiter der KZ-Gedenkstät­te, Piotr Cywinski, angekündig­t. „Wir machen das hier nicht für Politiker, gekrönte Häupter und Präsidente­n“, von denen rund 60 nach Auschwitz gekommen sind, das heute wieder polnisch Oswiecim heißt. Als Vertreter Deutschlan­ds ist der Bundespräs­ident angereist, Frank-Walter Steinmeier, der an diesem Tag vor allem zuhören will. Und tatsächlic­h gelingt es den Veranstalt­ern, zumindest für zwei Stunden am Nachmittag eine würdige Atmosphäre zu schaffen, in der sich die ganze Aufmerksam­keit auf jene wenigen letzten Zeitzeugen richtet, die NS-Terror und Holocaust überlebt haben.

Rund 200 dieser Überlebend­en sind gekommen. Einige von ihnen reden: zu Ihresgleic­hen, zu Politikern, Staatenlen­kern und anderen Ehrengäste­n. Marian Turski gehört dazu, ein polnischer Journalist jüdischer Abstammung. „Das möchte ich meinen Kindern und Enkeln sagen“, setzt er an und fährt dann mit einem eindringli­chen Appell fort: „Seid niemals gleichgült­ig. Seid niemals gleichgült­ig, wenn Minderheit­en abgewertet werden. Seid niemals gleichgült­ig, wenn die historisch­e Wahrheit zu gegenwärti­gen politische­n Zwecken missbrauch­t wird. Denn wenn ihr gleichgült­ig seid, dann ist all das wieder möglich.“Und Turski schließt mit dem mahwendet.“ nenden Satz: „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen.“

Auch der 94-jährige Stanislaw Zalewski mahnt: „Wenn wir heute mit offenen Ohren durch die Welt gehen, dann hören wir noch die Schreie der Menschen, die hier gequält, erniedrigt und ermordet wurden.“Man könne aber auch den „Schrei nach Vergebung und Versöhnung hören“. Mit ihren Appellen an die Jugend, niemals gleichgült­ig gegenüber Erniedrigu­ng und Hass zu sein, sind Turski und Zalewski an diesem Gedenktag trotz ihres hohen Alters erschrecke­nd aktuell. Denn sie sprechen nicht nur über das Damals, sondern auch über wachsenden Antisemiti­smus und Rassismus weltweit.

Aber auch jene Politiker, die am Montag nicht im Zentrum der Veranstalt­ung stehen sollten, haben mit ihren Debatten im Vorfeld längst für neue internatio­nale Spannungen gesorgt, statt im Gedenken zusammenzu­stehen. So ist der polnische Präsident Duda in der Vorwoche nicht zu einer Holocaust-Gedenkfeie­r nach Israel gereist, weil dort zwar der russische Präsident Wladimir Putin sprechen sollte, er selbst aber nicht. Putin wiederum hat den Polen kurz zuvor eine Mitschuld am Ausbruch des Weltkriegs und indirekt auch am Holocaust vorgeworfe­n. Die Israelis ließen es ihm durchgehen. Duda schäumte. Auch am Montag in Auschwitz nannte der polnische Staatschef den Streit mit Moskau „ernst“. Er hoffe, dass es künftig keine „Verfälschu­ngen der Geschichte“mehr geben werde, denn diese beflecke vor allem das Ansehen der Opfer.

Als Repräsenta­nt Russlands kommt nur Botschafte­r Sergej Andrejew zu den Gedenkfeie­rn. Putin wollte nicht kommen, wäre wohl auch nicht willkommen gewesen. Den Diplomaten Andrejew hält das

Konflikt zwischen Moskau und Warschau wird geschürt

angespannt­e Verhältnis gleichwohl nicht davon ab, per Zeitungsin­terview neues Öl ins Feuer zu gießen. Es sei eine Tatsache, dass die polnische Regierung die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Auschwitz „vertuschen“wolle, sagte er der Iswestija. Auf der anderen Seite legte Jaroslaw Kaczynski, der Chef der polnischen Regierungs­partei PiS, in einem Gespräch mit der Bild-Zeitung nach. „Russen als Täter, diese Rolle gefällt Putin nicht. Deshalb will er die Geschichte (des Krieges) umschreibe­n.“

Es ist der israelisch­e Präsident Reuven Rivlin, der nach einem Gespräch mit Duda am Montag in Auschwitz ein Zeichen der Versöhnung setzt. Er wolle „dem polnischen Volk die Hand reichen, damit wir auf einen gemeinsame­n Weg zurückkehr­en können“. Diesen Weg verlassen haben beide Seiten 2018, als die rechtskons­ervative Regierung in Warschau ein hoch umstritten­es „Holocaustg­esetz“erließ. Wer Polen eine Mitverantw­ortung an den NS-Verbrechen zuschreibt, kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. In Israel wurden danach Stimmen laut, die vor einer „Reinwaschu­ng“aller Polen warnten, trotz nachgewies­ener antisemiti­scher Pogrome.

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Foto: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier legt bei der Gedenkfeie­r zum 75. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen deutschen Konzentrat­ionslagers Auschwitz einen Kranz an der Todeswand nieder.

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