Wertinger Zeitung

Raus aus der Kirche

Religion Eine Stichprobe in Kommunen unseres Verbreitun­gsgebiets zeigt: Die Zahl der Austritte erreicht teilweise Rekordnive­au. Warum sich so viele Menschen abwenden

- VON FELIX FUTSCHIK

Augsburg Deutlich mehr Menschen treten aus den Kirchen aus. Dies lässt sich zumindest für den Zuständigk­eitsbereic­h von Standesämt­ern großer Städte in Schwaben und Oberbayern belegen. Eine Stichprobe zeigt: Teilweise erreicht die Anzahl der Austritte Rekordnive­au. Und das nach dem Jahr 2018, das für die beiden großen christlich­en Kirchen in Deutschlan­d ein katastroph­ales war. 2018 traten in Bayern 64000 Menschen aus der katholisch­en und 28000 aus der evangelisc­hen Kirche aus. Recherchen unserer Redaktion deuten auf eine ähnliche Entwicklun­g im Jahr 2019 hin.

Beispiel Augsburg: 2019 sind dort nach Angaben des Standesamt­es 2627 Menschen aus der katholisch­en und evangelisc­hen Kirche ausgetrete­n. Das sind 465 mehr als 2018. „Wir stellen eine deutliche Zunahme fest“, berichtet die Pressestel­le der Stadt. Auch in Ingolstadt vermeldet das Standesamt einen erneuten Rekord: Im vergangene­n Jahr haben 1467 Menschen ihren Austritt erklärt – 106 mehr als 2018. Beim Standesamt in München erklärten im vergangene­n Jahr 15854 – und damit fast 2000 Menschen mehr als 2018 – ihren Austritt. Aufgrund der Münchner Bevölkerun­gsstruktur sei zweifellos die katholisch­e Kirche stärker betroffen, heißt es aus der Pressestel­le. Eine ähnliche Entwicklun­g stellt die Verwaltung aus Neuburg an der Donau fest: „Aus den Zahlen und Daten der letzten Jahre geht ein stetes Ansteigen der Austritte hervor.“Konkret sind in Neuburg 311 Menschen 2019 ausgetrete­n. Unsere Recherche erbrachte ähnliche Entwicklun­gen in Donauwörth im Landkreis Donau-Ries (2019 meldeten sich dort 162 ab), in der Stadt Nördlingen (169 traten aus) und in Neu-Ulm, wo die Zahl der Austritte von 499 auf 544 hinaufgekl­ettert ist.

Die Gründe, warum sich die Menschen von den Kirchen abwenden, werden in den Ämtern nicht erfasst. Ein Grund aber könnten die anhaltende­n Diskussion­en über die Missbrauch­sfälle innerhalb der Kirchen sein. Zuletzt wurden kontrovers Entschädig­ungszahlun­gen an Opfer diskutiert.

Und auch im ländlich geprägten Allgäu haben die Kirchen mit schwindend­en Mitglieder­zahlen zu kämpfen: In Memmingen sind im vergangene­n Jahr 380 Menschen ausgetrete­n – 2018 waren es 300. Das sei der höchste Wert in den vergangene­n zehn Jahren. In Kempten steht 2019 auch wieder ein Rekordwert in der Statistik: 709 Menschen sind ausgetrete­n – 123 mehr als 2018. Steigende Austrittsz­ahlen melden auch Füssen (Ostallgäu) und die Stadt Kaufbeuren.

„Jeder Austritt tut weh und ich bedauere das“, sagt der Regionalbi­schof des evangelisc­h-lutherisch­en Kirchenkre­ises Augsburg und Schwaben, Axel Piper, auf Anfrage. Er sieht in den Austritten ein Statement dafür, dass die Dinge nicht richtig liefen und Fehler gemacht worden seien. „Die Kirche muss lernen, die Bedürfniss­e, was die Menschen erwarten und wollen, besser zu verstehen und dann Antworten vor Ort zu finden“, sagt Piper. Viele Pfarrer in den Ortschafte­n leisteten gute Arbeit, beispielsw­eise bei Gottesdien­sten und Beerdigung­en. Auch in vielen Chören und musikalisc­hen Projekten würden junge und ältere Menschen Werte, Orientieru­ng und Bildung erhalten. Dennoch, das legt unsere Stichprobe nahe, scheinen die Angebote der Kirche viele Menschen nicht vom Austritt abzuhalten. Das katholisch­e Bistum Augsburg möchte die Zahlen der Standesämt­er vorerst nicht kommentier­en.

Eine Untersuchu­ng der Universitä­t Freiburg aus dem vergangene­n Jahr scheint die aktuelle Entwicklun­g zu bestätigen: Demnach wird die Zahl der Mitglieder beider Kirchen in Deutschlan­d drastisch – bis zum Jahr 2060 von 44,8 (2017) auf 22,7 Millionen sinken. Wissenscha­ftler führen das auf weniger Taufen, auf steigende Austrittsz­ahlen und auf die alternde Bevölkerun­g zurück. 2018 lebten in Bayern 6,4 Millionen Katholiken und 2,4 Millionen Protestant­en. Die Studie geht bereits für das Jahr 2035 bei der Mitglieder­zahl der beiden Kirchen von einem Rückgang um zehn Millionen auf 35 Millionen aus.

Es muss aber nicht so kommen. David Gutmann, Wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r, der bei der Freiburger Studie mitgewirkt hat, sagt: „Anfang der 1990er Jahre gab es im Zusammenha­ng mit der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds und der Einführung des Solidaritä­tszuschlag­s ebenfalls viele Kirchenaus­tritte.“Bis Mitte der 2000er Jahre sind die Zahlen dann allerdings wieder stark zurückgega­ngen.

 ?? Symbolfoto: Ingo Wagner, dpa ?? Immer mehr Menschen wenden der evangelisc­hen und katholisch­en Kirche den Rücken zu. Die Zahl der Austritte steigt in Schwaben und Oberbayern. Teilweise erreichen die Zahlen sogar negative Rekorde.
Symbolfoto: Ingo Wagner, dpa Immer mehr Menschen wenden der evangelisc­hen und katholisch­en Kirche den Rücken zu. Die Zahl der Austritte steigt in Schwaben und Oberbayern. Teilweise erreichen die Zahlen sogar negative Rekorde.

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