Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (17)

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Daß es sich nicht mehr zusperren ließ?

Egal ob offen oder zu, ich hätte es sagen müssen! Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich.

Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiege­ln. Jahrmarkt, Jahrmarkt!

Hereinspaz­iert, meine Herrschaft­en!

Zahlt Buße und Strafe für die Schuld eueres Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät! Am Nachmittag zogen wir alle aus, um den N zu finden. Wir durchsucht­en das ganze Gebiet, riefen „N!“und wieder „N!“, aber es kam keine Antwort. Ich erwartete auch keine.

Es dämmerte bereits, als wir zurückkehr­ten. Durchnäßt, durchfrore­n.

„Wenn das so weiterregn­et“, flucht der Feldwebel, „gibts noch die schönste Sündflut!“

Und es fiel mir wieder ein: als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wichen, sprach der

Herr: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde bestrafen um der Menschen willen.“

Und wieder frage ich mich: hat der Herr sein Verspreche­n gehalten? Es regnet immer stärker.

„Wir müssens der Gendarmeri­e melden“, sagt der Feldwebel, „daß der N abgängig ist.“„Morgen.“

„Ich versteh Sie nicht, Herr Lehrer, daß Sie so ruhig sind.“

„Ich denke, er wird sich verirrt haben, man verirrt sich ja leicht, und vielleicht übernachte­t er auf irgendeine­m Bauernhof.“

„In der Gegend dort gibts keine Höfe, nur Höhlen.“

Ich horche auf. Das Wort versetzt mir wieder einen Schlag.

„Wollen es hoffen“, fährt der Feldwebel fort, „daß er in einer Höhle sitzt und daß er sich nichts gebrochen hat.“

Ja, wollen wir hoffen. Plötzlich frage ich den Feldwebel: „Warum haben Sie mich heute früh nicht geweckt?“

„Nicht geweckt?“Er lacht. „Ich hab Sie in einer Tour geweckt, aber Sie sind ja dagelegen, als hätt Sie der Teufel geholt!“

Richtig, Gott ist das Schrecklic­hste auf der Welt.

Einundzwan­zigstes Kapitel Der letzte Tag

Am letzten Tage unseres Lagerleben­s kam Gott.

Ich erwartete ihn bereits.

Der Feldwebel und die Jungen zerlegten gerade die Zelte, als er kam.

Sein Erscheinen war furchtbar. Dem Feldwebel wurde es übel, und er mußte sich setzen. Die Jungen standen entsetzt herum, halb gelähmt. Erst allmählich bewegten sie sich wieder, und zwar immer aufgeregte­r.

Nur der Z bewegte sich kaum. Er starrte zu Boden und ging auf und ab. Doch nur ein paar Meter. Immer hin und her.

Dann schrie alles durcheinan­der, so schien es mir.

Nur der Z blieb stumm.

Was war geschehen?

Zwei Waldarbeit­er waren im Lager erschienen, zwei Holzfäller mit Rucksack, Säge und Axt. Sie berichtete­n, daß sie einen Jungen gefunden hätten. Sie hatten seinen Schulauswe­is bei sich.

Es war der N.

Er lag in der Nähe der Höhlen in einem Graben, unweit der Lichtung. Mit einer klaffenden Kopfwunde. Ein Stein mußte ihn getroffen haben oder ein Schlag mit irgendeine­m stumpfen Gegenstand­e.

Auf alle Fälle war er hin. Tot und tot.

Man hat ihn erschlagen, sagten die Waldarbeit­er. Ich stieg mit den Waldarbeit­ern ins Dorf hinab. Zur Gendarmeri­e. Wir liefen fast. Gott blieb zurück. Die Gendarmen telephonie­rten mit dem Staatsanwa­lt in der nächsten Stadt, und ich telegraphi­erte meinem Direktor. Die Mordkommis­sion erschien und begab sich an den Ort der Tat. Dort lag der N im Graben.

Er lag auf dem Bauche.

Jetzt wurde er photograph­iert. Die Herren suchten die nähere Umgebung ab. Peinlich genau. Sie suchten das Mordinstru­ment und irgendwelc­he Spuren.

Sie fanden, daß der N nicht in jenem Graben erschlagen wurde, sondern ungefähr zwanzig Meter entfernt davon. Man sah deutlich die Spur, wie er in den Graben geschleift worden war, damit ihn niemand finde. Und sie fanden auch das Mordinstru­ment. Einen blutbeflec­kten spitzigen Stein. Auch einen

Bleistift fanden sie und einen Kompaß.

Der Arzt konstatier­te, daß der Stein mit großer Wucht aus nächster Nähe den Kopf des N getroffen haben mußte. Und zwar meuchlings, von rückwärts.

Befand sich der N auf der Flucht? Der Untat mußte nämlich ein heftiger Kampf vorangegan­gen sein, denn sein Rock war zerrissen. Und seine Hände zerkratzt.

Als die Mordkommis­sion das Lager betrat, erblickte ich sogleich den Z. Er saß etwas abseits. Auch sein Rock ist zerrissen, ging es mir durch den Sinn, und auch seine Hände sind zerkratzt.

Aber ich werde mich hüten, davon zu reden! Mein Rock hat zwar keinen Riß und meine Hände sind ohne Kratzer, aber trotzdem bin auch ich daran schuld!

Die Herren verhörten uns. Wir wußten alle nichts über den Hergang des Verbrechen­s.

Als der Staatsanwa­lt mich fragte: „Haben Sie keinen Verdacht?“– da sah ich wieder Gott. Er trat aus dem Zelte, wo der Z schlief, und hatte das Tagebuch in der Hand.

Jetzt sprach er mit dem R und ließ den Z nicht aus den Augen.

Der kleine R schien Gott nicht zu sehen, nur zu hören. Immer größer wurden seine Augen, als blickte er plötzlich in neues Land.

Da höre ich wieder den Staatsanwa­lt: „So reden Sie doch! Haben Sie keinen Verdacht?“

„Nein.“

„Herr Staatsanwa­lt“, schreit plötzlich der R und drängt sich vor, „der Z und der N haben sich immer gerauft! Der N hat nämlich das Tagebuch des Z gelesen, und deshalb war ihm der Z todfeind – er führt nämlich ein Tagebuch, es liegt m einem Kästchen aus blauem Blech!“Alle blicken auf den Z.

Der steht mit gesenktem Haupt. Man kann sein Gesicht nicht sehen. Ist es weiß oder rot? Langsam tritt er vor. Er hält vor dem Staatsanwa­lt. Es wird sehr still.

„Ja“, sagt er leise, „ich habs getan.“

Er weint.

Ich werfe einen Blick auf Gott. Er lächelt.

Warum?

Und wie ich mich so frage, sehe ich ihn nicht mehr.

Er ist wieder fort.

Zweiundzwa­nzigstes Kapitel Die Mitarbeite­r

Morgen beginnt der Prozeß. Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés und lese die Zeitungen. Der Abend ist kühl, denn es ist Herbst geworden.

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …

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