Wertinger Zeitung

Das neue Gesicht der Popmusik

Grammys Frauen an die Macht! Und: Schluss mit den Prinzessin­nen! Nicht nur der Triumph der jungen Billie Eilish bei den wichtigste­n Musikpreis­en zeigt: Die Zeiten sind reif für neue Star-Typen. Wenn sie denn selbst reif dafür sind

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Los Angeles 15 Jahre ist es her, dass zum ersten Mal Musikstars über einen Hype im Internet geboren wurden. Es war die britische Rockband Arctic Monkeys, der bis heute gelungen ist, weder ihr Talent unter dem Erwartungs­druck zu verscherbe­ln noch persönlich am Erfolg zu zerbrechen – sie sind groß und dabei eigenwilli­g geblieben.

Seitdem ist der Entdeckung­spfad online zur neuen Autobahn der Branche geworden. Die Musik aber, die auf diesem Weg an die Spitze gespült wird, ist eine ganz andere.

Die nun in Los Angeles, in der Heimat der Popmusik vergebenen und noch immer als wichtigste­r Musikpreis geltenden Grammys sind der beste Beweis. Männer mit Gitarren spielen längst nur noch Nebenrolle­n – unter den acht Nominierte­n fürs „Beste Album“waren nur entfernt rockig die Arctic-Monkeysähn­lichen Vampire Weekend. Die Popwelt ist weiblich dominiert, hat aber den nächsten Schritt bereits vollzogen: Nicht Taylor Swift, Beyoncé oder Ariana Grande haben abgeräumt, Miley Cyrus und Katy Perry wurden nicht vermisst. Ein Modell steht vor der Ablösung.

Siegerin in den vier Hauptkateg­orien mit Album und Song, Produktion und Entdeckung des Jahres wurde die gerade erst 18-jährige Billie Eilish. Ergänzt durch weitere Auszeichnu­ngen etwa für „Bestes PopGesangs­album“oder auch zwei Produzente­npreise für Finneas O’Connell, Billies Bruder, mit dem zusammen sie ihre Musik – noch im Elternhaus in Los Angeles wohnend – aufgenomme­n hat. Auch dieser Erfolg, kürzlich zudem mit dem Auftrag für den neuen Bond-Song gekrönt, ist im Internet herangewac­hsen, im Lauf von Jahren, angefangen mit dem Song „Ocean Eyes“. Inzwischen ist jedes Lied des Albums „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“hundert- millionenf­ach in den Netzen gehört worden, Billies Hit „Bad Guy“weit im Milliarden­bereich, sie hat an die 50 Millionen Follower. Und ist dabei weit entfernt von poppigem Trallala, sexy Inszenieru­ng und schillernd­er Erscheinun­g.

Immer in weiten Klamotten auftretend, sich mit Wahn- und Horror-Effekten präsentier­end, unter anderem von Ängsten, Depression­en und Selbstmord­gedanken singend zur feinen elektronis­chen Basis des soundtüfte­lnden Bruders – so sieht diese neue Erscheinun­g des Pop aus, wirkt verletzlic­h und unverstell­t, auch im Verarbeite­n ihrer Tourette-Erkrankung und im Bekenntnis zum Veganertum. Die heute unweigerli­che Verknüpfun­g von Privatem und Künstleris­chem vollzieht sie ganz anders als die Show- und Boulevard-Spektakel bisheriger Pop-Prinzessin­nen.

Und Billie Eilish ist nicht das einzige Indiz dafür. Noch häufiger als diese nominiert und letztlich vor allem im Bereich R&B prämiert wurde die Sängerin Lizzo. Auch die macht zwar schon Jahre Musik, stieß aber nun mit ihrem ersten herkömmlic­hen Album, „Cuz I Love You“, und Hits wie „Truth Hurts“so sehr in die Breitenwir­kung durch, dass die New York Times die 32-Jährige aus Detroit zur einflussre­ichsten Entertaine­rin 2019 kürte und Lizzo auch im Star-Kino mit „Hustlers“gerade im Stripperin­nen-Milieu neben Jennifer Lopez für ihre Botschaft eintreten konnte: „Body Positivity“– ein selbstlieb­endes und lebensbefr­eiendes Ja zu einem Körper, der nicht nach Prinzessin aussieht. Und der auch nicht dunkelhäut­ig nur vermeintli­ch gegen-ikonisch wie der einer Beyoncé inszeniert sein muss – diese im besten Sinne wuchtige Frau ist eher eine Soul singende, aber auch rappende Wiedergäng­erin von Beth Dito mit ihrer Band Gossip.

Allein was das klassische MachoGame des Rap angeht, ist die Musikwelt der Grammys noch eine männliche geblieben, von großartige­n Frauen wie Little Simz oder Jamila Woods fehlte noch jede Spur. Aber immerhin wurde auch der 20-jährige Lil Nas X mit seinem zum Sommerhit avancierte­n „Old Town Road“, ausgerechn­et queer und dunkelhäut­ig zu Country reimend, auch doppelt ausgezeich­net.

Die Zeit scheint reif für neue Typen. Wenn die es denn auch aushalten. Man möchte vor allem dieser 18-jährigen Billie jedenfalls die Coolness und Souveränit­ät wünschen, die sich die Arctic Monkeys erhalten haben – immer auch auf Abstand zu der plötzliche­n Bestätigun­g, sich um die eigene Entwicklun­g gekümmert, bei allen Rechnungen, die im Erfolgsfal­l aufgemacht werden, unberechen­bar – und in der Kunst aktiv und am Leben geblieben. Alles Gute!

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Foto: Chris Pizzello, Invision, dpa Gerade 18 geworden und schon die ganz große Krönung: Billie Eilish mit all den Preisen, die sie bei den Grammys 2020 abgesahnt hat.
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Billies Bruder und Produzent Finneas
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Eine zweite Siege- rin: Lizzo

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