Die Masche mit dem Auffahrunfall
Verkehr Jedes Jahr werden 1,5 Millionen Kfz-Schäden „fiktiv“abgerechnet. Das macht es Betrügern leicht
Goslar Der Fall in Nordrhein-Westfalen machte 2019 Schlagzeilen: Die Polizei in Essen kam einer Bande auf die Spur, die mindestens 50 Unfälle absichtlich verursacht haben soll, um hohe Versicherungssummen einzustreichen. Kein Einzelfall, berichtet die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Immer wieder verursachen „Autobumser“vorsätzlich Kollisionen. Anschließend kassieren sie Geld, obwohl die Fahrzeuge allenfalls notdürftig repariert wurden.
Erleichtert wird die Betrugsmasche durch die sogenannte fiktive Schadensregulierung. Wer einen Unfallschaden nicht selbst verursacht hat, braucht nur einen Kostenvoranschlag oder ein Sachverständigengutachten zur Schadenshöhe und kann sich den entsprechenden Betrag von der Versicherung auszahlen lassen. Ob und wie das Fahrzeug repariert wird, darf der Halter selbst entscheiden. Ab Mittwoch wird beim Verkehrsgerichtstag in Goslar diskutiert, ob diese Regelung zu ungerechtfertigter Bereicherung führt und Gesetzesänderungen nötig sind.
Nach Angaben des Gesamtverbands der Versicherer (GDV) gibt es bundesweit pro Jahr etwa vier Millionen Kfz-Haftpflichtschäden. „Etwa 35 bis 40 Prozent davon werden fiktiv abgerechnet“, sagt ein Sprecher.
Die fiktive Schadensabrechnung begünstige Betrüger, meint der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Michael Mertens. Die Strategie der Gauner sei dabei ganz einfach: „Zunächst sorgen sie absichtlich dafür, dass es zu einem Unfall kommt, bei dem das eigene Fahrzeug beschädigt wird.“Anschließend verlangten die Betrüger von der Versicherung die Schadensregulierung auf Basis der fiktiven Wiederherstellungskosten. Ähnlich sieht es das Landgericht Darmstadt. Die fiktive Schadensabrechnung, heißt es in einem Urteil vom Herbst 2018, sei „das Einfallstor für Versicherungsbetrügereien und gestellte, provozierte oder sonst manipulierte Verkehrsunfälle“. Zumeist würden Fahrzeuge der Oberklasse eingesetzt, beschädigt und dann bei der Versicherung „zur Regulierung auf der Basis fiktiver Reparaturkosten vorgestellt“. Die Kosten lägen dabei oft um „ein Vielfaches über den zumeist nur kosmetisch in Hinterhofwerkstätten
durchgeführten tatsächlichen Kosten der Beseitigung der Unfallspuren“.
„Grundsätzlich könnten Kriminelle die Möglichkeit der fiktiven Schadensabrechnung nutzen, um Schäden überhöht abzurechnen“, bestätigt ein Sprecher des GDV. So sieht man es auch beim Automobilclub Europa. „Alte und schrottreife Fahrzeuge können durch einen gefakten Unfall noch relativ gut zu Geld gemacht werden“, sagt Sprecher Sören Heinze. „Stichwort: gestellte Auffahrunfälle.“
Die Abschaffung der fiktiven Schadensregulierung lehnen viele Experten trotzdem ab. Geschädigte dürften in ihrer Dispositionsfreiheit nicht eingeschränkt werden, sagt ein ADAC-Sprecher. Nur der Geschädigte entscheide darüber, ob er sein Fahrzeug vollständig, teilweise oder überhaupt nicht reparieren lasse.
„Dem Geschädigten muss es auch in Zukunft freistehen, wie er mit seinem Schaden umgeht“, meint die Verkehrsrechtsexpertin Nicola Meier-van Laak. „Er muss selbst entscheiden können, wie er abrechnet und wie er einen Geldbetrag verwendet.“Auch die Versicherer wollen am Status quo festhalten. Dieser habe Vorteile für beide Seiten, sagt der GDV-Sprecher. „Weil nicht bis zum Abschluss der Reparatur gewartet werden muss und sich der Nachweis einer fachgerechten Reparatur erübrigt, spart der Versicherer Zeit und Bearbeitungsaufwand.“Und der Geschädigte erhalte sein Geld früher und könne frei entscheiden, ob und wie er den Schaden reparieren lässt. Im Übrigen seien Versicherungen nicht untätig gegen Gauner. Gutachten und Kostenvoranschläge werden durch Sachverständigen-Organisationen auf Plausibilität überprüft. Verkehrsrechtsexpertin Meier-van Laak sagt: „Die fiktive Abrechnung ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass Betrüger betrügen.“