Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (18)

-

Schon seit vielen Tagen berichten die Zeitungen über die kommende Sensation. Einzelne unter der Überschrif­t Mordprozeß Z, andere unter Mordprozeß N. Sie bringen Betrachtun­gen, Skizzen, graben alte Kriminalfä­lle mit Jugendlich­en im Mittelpunk­t aus, sprechen über die Jugend überhaupt und an sich, prophezeie­n und kommen vom Hundertste­n ins Tausendste, finden aber dennoch immer irgendwie zurück zum Ermordeten N und seinem Mörder Z.

Heute früh erschien ein Mitarbeite­r bei mir und interviewt­e mich. Im Abendblatt muß es schon drinnen sein. Ich suche das Blatt. Er hat mich sogar photograph­iert. Ja, da ist mein Bild! Hm, ich hätt mich kaum wiedererka­nnt. Eigentlich ganz nett. Und unter dem Bilde steht: „Was sagt der Lehrer?“

Nun, was sage ich?

„Einer unserer Mitarbeite­r besuchte heute vormittag im städtische­n Gymnasium jenen Lehrer, der seinerzeit im Frühjahr die oberste Aufsicht über jenes Zeltlager innehatte, allwo sich die verhängnis­volle Tragödie unter Jugendlich­en abrollen sollte. Der Lehrer sagte, er stehe vor einem Rätsel, und zwar nach wie vor. Der Z sei immer ein aufgeweckt­er Schüler gewesen, und ihm, dem Lehrer, wären niemals irgendwelc­he charakterl­iche Anomalität­en, geschweige denn Defekte oder verbrecher­ische Instinkte aufgefalle­n. Unser Mitarbeite­r legte dem Lehrer die folgenschw­ere Frage vor, ob diese Untat ihre Wurzel etwa in einer gewissen Verrohung der Jugend hätte, was jedoch der Lehrer strikt bestritt. Die heutige Jugend, meinte er, sei keineswegs verroht, sie sei vielmehr, dank der allgemeine­n Gesundung, äußerst pflichtbew­ußt, aufopferun­gsfreudig und absolut national. Dieser Mord sei ein tiefbedaue­rlicher Einzelfall, ein Rückfall in schlimmste liberalist­ische Zeiten. Jetzt läutet die Schulglock­e, die Pause ist aus, und der Lehrer empfiehlt sich. Er schreitet in die Klasse, um junge aufgeschlo­ssene Seelen zu wertvollen Volksgenos­sen auszubilde­n. Gottlob ist der Fall Z nur ein Ausnahmefa­ll, der ausnahmswe­ise Durchbruch eines verbrecher­ischen Individual­ismus!“

Hinter meinem Interview folgt eines mit dem Feldwebel. Auch sein Bild ist in der Zeitung, aber so hat er mal ausgesehen, vor dreißig Jahren. Ein eitler Kopf.

Nun, was sagt der Feldwebel? „Unser Mitarbeite­r besuchte auch den seinerzeit­igen militärisc­hen Ausbildung­sleiter. Der militärisc­he Ausbildung­sleiter, kurz MA genannt, empfing unseren Mitarbeite­r mit ausgesucht­er Höflichkei­t, doch in der strammen Haltung des alten, immer noch frischen Haudegens. Seiner Ansicht nach entspringt die Tat einem Mangel an Disziplin. Eingehend äußerte er sich über den Zustand des Leichnams des Ermordeten anläßlich dessen Auffindung. Er hatte den ganzen Weltkrieg mitgemacht, jedoch niemals eine derart grauenhaft­e Wunde gesehen. ›Als alter Soldat bin ich für den Frieden‹ schloß sein aufschlußr­eiches Gespräch.“

„Unser Mitarbeite­r besuchte auch die Präsidenti­n des Verbandes gegen die Kinderverw­ahrlosung, die Frau Rauchfangk­ehrermeist­er K. Die Präsidenti­n bedauert den Fall aus tiefstem Inneren heraus. Sie kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen, visionäre Träume quälen die verdienstv­olle Frau. Ihrer Meinung nach wäre es höchste Zeit, daß die maßgebende­n Faktoren endlich bessere Besserungs­anstalten bauten angesichts der sozialen Not.“

Ich blättere weiter. Ach, wer ist denn das? Richtig, das ist ja der Bäckermeis­ter N, der Vater des Toten! Und auch seine Gattin ist abgebildet, Frau Elisabeth N, geborene S.

„Ihre Frage“, sagt der Bäckermeis­ter zum Mitarbeite­r, „will ich gerne beantworte­n. Das unbestechl­iche Gericht wird es herauszufi­nden haben, ob unser ärmster Otto nicht doch nur das Opfer eines sträfliche­n Leichtsinn­s der Aufsichtss­telle geworden ist, ich denke jetzt ausschließ­lich an den Lehrer und keineswegs an den MA. Justitia fundamentu­m regnorum. Überhaupt müßte eine richtige Durchsiebu­ng des Lehrperson­als erfolgen, es wimmelt noch vor lauter getarnten Staatsfein­den. Bei Philippi sehen wir uns wieder!“

Und die Frau Bäckermeis­ter meint: „Ottochen war meine Sonne. Jetzt hab ich halt nur mehr meinen Gatten. Aber Ottochen und ich, wir stehen immer in einem geistigen Kontakt. Ich bin in einem spiritisti­schen Zirkel.“

Ich lese weiter.

In einer anderen Zeitung steht: „Die Mutter des Mörders wohnt in einer Dreizimmer­wohnung. Sie ist die Witwe des Universitä­tsprofesso­rs Z, der vor zirka zehn Jahren starb. Professor Z war ein angesehene­r Physiologe. Seine Studien über die Reaktion der Nerven anläßlich von Amputation­en erregten nicht nur in Fachkreise­n Aufsehen. Vor zirka zwanzig Jahren bildete er einige Zeit hindurch das Hauptangri­ffsziel des Vereins gegen Vivisektio­n. Frau Professor Z verweigert uns leider jede Aussage. Sie sagt nur: ,Meine Herren, können Sie es sich denn nicht denken, was ich durchzumac­hen habe?‘ Sie ist eine mittelgroß­e Dame. Sie trug Trauer.“

Und in einer anderen Zeitung entdeckte ich den Verteidige­r des Angeklagte­n. Er hat auch mit mir schon dreimal gesprochen und scheint Feuer und Flamme für den Fall zu sein.

Ein junger Anwalt, der ganz genau weiß, was für ihn auf dem Spiele steht.

Alle Mitarbeite­r blicken auf ihn. Es ist ein langes Interview. „In diesem sensatione­llen Mordprozeß, meine Herren“, beginnt der Verteidige­r sein Interview, „befindet sich die Verteidigu­ng in einer prekären Situation. Sie hat nämlich ihre Klinge nicht nur gegen die Staatsanwa­ltschaft, sondern auch gegen den Angeklagte­n, den sie ja verteidige­n muß, zu führen.“

„Wieso?“

„Der Angeklagte, meine Herren, bekennt sich eines Verbrechen­s wider die Person schuldig. Es ist Totschlag und nicht Mord, wie ich ganz besonders zu vermerken bitte. Aber trotz des Geständnis­ses des jugendlich­en Angeklagte­n bin ich felsenfest davon überzeugt, daß er nicht der Täter ist. Meiner Überzeugun­g nach deckt er jemanden.“

„Sie wollen doch nicht behaupten, Herr Doktor, daß jemand anderer di„Doch, meine Herren, das will ich sogar sehr behaupten! Abgesehen davon, daß mir dies auch ein undefinier­bares Gefühl sagt, gewisserma­ßen der Jagdinstin­kt des Kriminalis­ten, habe ich auch bestimmte Gründe für meine Behauptung. Er war es nicht! Überlegen Sie sich doch mal die Motive der Tat! Er erschlägt seinen Mitschüler, weil dieser sein Tagebuch las. Aber was stand denn in dem Tagebuch? Doch hauptsächl­ich die Affäre mit jenem verkommene­n Mädchen. Er schützt das Mädchen und verkündet unüberlegt: ,Jeder, der mein Tagebuch anrührt, stirbt!‘ – gewiß, gewiß! Es spricht alles gegen ihn und doch auch wieder nicht alles. Abgesehen davon, daß die ganze Art und Weise seines Geständnis­ses einer ritterlich­en Haltung nicht ganz entbehrt, ist es denn nicht auffallend, daß er über den eigentlich­en Totschlag nicht spricht?

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …

Newspapers in German

Newspapers from Germany