Was würde er sagen – und schreiben?
Medien Vor 50 Jahren starb Curt Frenzel. Er hatte von den Amerikanern die Lizenz bekommen, die Augsburger Allgemeine herauszugeben. Und damit den Auftrag, eine freie Presse aufzubauen. Die ist in Zeiten von Fake News, Trump und Populismus wichtiger denn j
Augsburg Wenige Wochen vor seinem Tod am 30. Januar 1970 schrieb Curt Frenzel in einem Brief: „Es entspricht meinem Grundsatz, das Gemeinsame zu betonen, aber nicht das Trennende hervorzuheben.“Es sind Worte, die ein journalistisches Lebenswerk verdichten. Die nachhallen. In eine Gegenwart, in der Trennendes häufiger betont als Gemeinsames hervorgehoben wird. In der das nicht mehr selbstverständlich ist, was dem Gründungsherausgeber, Verleger und langjährigen Chefredakteur dieser Zeitung so überaus wichtig war: ein offenes Deutschland.
Dabei ging es genau darum, als Frenzel am 30. Oktober 1945 richtig begann. Als er und sein künftiger Mitherausgeber Johann Wilhelm Naumann – ein strenggläubiger Katholik – in einem Flügel des Realgymnasiums an der Blauen Kappe 10 in Augsburg von US-Oberst Barney McMahon die „Lizenz Nr. 7“überreicht bekamen. Die Erlaubnis, eine Zeitung herausbringen zu dürfen. Verbunden mit der Verpflichtung: eine Demokratie aufzubauen. Frenzel, inzwischen 44 Jahre alt, konnte endlich loslegen. Nach zwölf Jahren des Schweigens.
Auf den alten Fotos sieht man das Hinweisschild, das den Weg zur Redaktion weist. Davor Trümmer, dahinter Schuttberge. Bevor Deutschland befreit wurde, waren auch auf Augsburg Bomben gefallen. Dort, wo heute neben der Esso-Tankstelle das Peutinger-Gymnasium ist, wurde damals die Presse angeworfen. Über dem Haupteingang steht heute geschrieben: „Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage.“Curt Frenzel hätte das gefallen.
Er, stämmig, strahlend blaue Augen, gebürtiger Sachse, war ein von den Nationalsozialisten verfolgter Sozialdemokrat, der vieles hatte durchmachen müssen. Er sagte in seinen Dankesworten an die Militärregierung: „Ich habe mein persönliches Wort dafür gegeben, dass die politische Führung der Redaktion parteipolitisch neutral sein wird. Das heißt nicht, dass wir unpolitisch sein wollen. Unser Feind, den wir am stärksten bekämpfen werden, ist das Dreigespann: Faschismus, Militarismus, Reaktion …“
Noch am selben Tag erschien die erste Ausgabe der Schwäbischen Landeszeitung, die erst später in Augsburger Allgemeine umbenannt wurde. Unter der Überschrift „Was wir wollen“schrieb der frisch ernannte Chefredakteur einen programmatischen Leitartikel: „Wir wollen ein neues Deutschland bauen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. … Wir wollen dafür sorgen, dass die Demokratie nicht zu einem hohlen Schlagwort wird, wir wollen dem deutschen Volk sagen, daß Demokratie die stärkste Bindung ist, die ein Mensch eingehen kann, weil er sich mit ihr freiwillig zu größter Selbstverantwortung und Selbstdisziplin bekennt.“Die von ihm verantwortete Zeitung werde „in aller Objektivität aus nah und fern ihre Meldungen bringen. Sie dient der Wahrheit“, wie es in einem Grußwort an die Leser auf der Titelseite hieß. Und zwar „nur der Wahrheit“. Keine Fake News. Oberst McMahon konnte mit Frenzel zufrieden sein, und war es auch.
In dem Seitenflügel des Peutinger, in dem Frenzel und Naumann an weiß gedeckten Tischen von den Amerikanern die Lizenz erhielten, sieht man nichts mehr von den alten Zeiten. Wo heute Schüler in einem sehr modernen Chemie-Saal experimentieren, machten sich Frenzel und seine kleine Redaktion an die Zeitungsproduktion. Alles war knapp. Papier, Blei zum Setzen, Kippen für die Redaktionskonferenz. Aber der Hunger nach echten
Nachrichten war groß. Bis zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner am 28. April 1945 hatte die „Augsburger National-Zeitung“noch Hitlers Geschäft besorgt. Deutschland über alles.
75 Jahre später twittert US-Präsident Donald Trump: „USA! USA! USA!“Amerika zuerst. Ihm missliebige Medien schmäht er als Lügenpresse. Was Frenzel, der um eine griffige, in schneidigem Stakkato vorgetragene Bemerkung nie verlegen war, wohl erwidert hätte? Waren es doch die amerikanischen „Befreier“, wie er sie bereits bei der Lizenzübergabe bezeichnet hatte, die ihn zum Herausgeber machten. Nach intensiver Suche hatten sie in ihm jemanden gefunden, der ihren hohen Ansprüchen genügte.
Im Jahr 1900 in Dresden geboren, evangelisch getauft, war er 13 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann. Er prägte ihn. Sein Vater erlag, als er noch keine 18 war, einem Magenkrebs. Bruder Bernhard sollte er nicht mehr wiedersehen, nur später dessen letzte Ruhestätte, ein Massengrab in Frankreich. Frenzel war 21, als er seine Prüfungen am Fletcherschen Lehrerseminar in Dresden bestand, das von 1913 bis 1916 auch ein gewisser Erich Kästner besucht hatte. Kästner brach die Lehrerausbildung ab, Frenzel dagegen unterrichtete in den 1920er Jahren an Volks- und Berufsschulen. Sein Ziel war aber wohl immer ein anderes gewesen.
Das Schreiben trieb ihn schon seit Schulzeiten um. Auf der Oberrealschule war er als Zwölfjähriger für seine „besonderen Leistungen im Deutschen“ausgezeichnet und mit einem Buchpreis bedacht worden. Der Direktor fragte ihn, ob er nicht später einmal Journalist werden wolle. Er wollte.
Allerdings waren die Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg alles andere als leicht für den Heranwachsenden. Ohne Vater, ohne Bruder. Er musste Geld verdienen, ein Studium war nicht drin. So wurde er zunächst Volksschullehrer. Als sich 1928 dann die Gelegenheit ergab, in die Redaktion der sozialdemokratischen Chemnitzer Volksstimme einzutreten, war die Entscheidung schnell getroffen.
Das Blatt wurde kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers im März 1933 verboten, Frenzel – inzwischen zum stellvertretenden Chefredakteur aufgestiegen, verheiratet und Vater einer Tochter – wurde festgenommen, war Monate inhaftiert, wurde misshandelt, erhielt Berufsverbot. Zehn Jahre lang musste er sich bei der Polizei melden, anfangs jeden Tag drei Mal. Er begann, sich durchzuschlagen. War zeitweise arbeitslos, dann in einem Reisebüro tätig, später bei der Norddeutschen Lloyd.
1943 wurde er dienstverpflichtet. Zuvor hatte er den Leiter der Deutsch-Griechischen Warenausgleichsgesellschaft kennengelernt, der ihn anforderte. 1946 befand die Spruchkammer II in Augsburg, die ein formelles Verfahren aufgrund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus durchführte: „Seine Tätigkeit bei der Deutsch-Griechischen Warenausgleichsgesellschaft kann nicht als belastend angesehen werden.“Zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es Frenzel schließlich nach Bad Reichenhall verschlagen. Dort stöberten ihn die Amerikaner auf.
Vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Frenzel nichts wissen können. Die Gefahr aber, die die Nazis für die fragile Demokratie darstellten, hatte er erkannt. Er schrieb gegen Hitler an; der war für ihn ein „Psychopath“. Dazu gehörte Mut. Im Februar ’33 befand Frenzel, auch ein wortgewaltiger Redner: „Macht darum, ihr Nationalsozialisten, euer Brimborium, euer Tschingdada, euer Bumbum so lange, so oft, so laut wie ihr wollt! In die Front der um ihre Freiheit kämpfenden Volksmassen werdet ihr dennoch nicht einbrechen können!“
Klare Kante. Haltung. Ein Wort, das heute von manchem zum Schimpfwort gemacht wird. Es sind jene, die gerne ein anderes Deutschland hätten. Zumindest eine andere Regierung. Und ein anderes Mediensystem. Journalisten sind für sie Leute, die eine eigene Agenda bedienen.
Wie hätte Curt Frenzel auf derlei Anwürfe reagiert? Wie auf den
„Trauermarsch“von „besorgten Bürgern“, Rechtsradikalen und AfD-Politikern im Jahr 2018 nach der Tötung eines Deutschkubaners durch einen Syrer in Chemnitz? Der Stadt, in der er einst gegen die Nazis anschrieb. AfD-Spitzenpolitiker marschierten im Spätsommer 2018 in Chemnitz in vorderster Reihe, mit weißer Rose im schwarzen Sakko. Eine gezielte Provokation. Die Weiße Rose ist Symbol des Widerstands – gegen die NS-Diktatur. Sie steht für die Widerstandsgruppe um Hans und Sophie Scholl; beide wurden hingerichtet.
Frenzel hätte sich gewiss an die 1920er Jahre erinnert gefühlt – und an seine Leitartikel-Sätze aus der Erstausgabe der Schwäbischen Landeszeitung aus dem Jahr 1945: Deutschland werde erst dann frei sein, wenn der Nationalsozialismus in all seinen Verflechtungen ausgerottet sei. Der Nazispuk sei zwar verflogen, der Nazismus allerdings noch nicht überwunden.
Ist er das je? Gegenüber des Peutinger steht, grau betoniert, nicht zu übersehen, ein „Denkmal und Mahnmal“, das an den Ersten und Zweiten Weltkrieg erinnert. Am Volkstrauertag muss der Hausmeister der Schule drinnen den Knopf drücken, damit die oben am Mahnmal angebrachte Glocke läutet. Zum Gedenken für die „Toten und Lebenden“. Zur Erinnerung auch daran, wohin das Gegenteil von Meinungsund Pressefreiheit führt.
Die Weimarer Zeiten und das Heute sind natürlich völlig verschieden. Und doch fühlen sich im Jahr 2020 viele an so manches von damals erinnert. Die 1920er und die 1930er in ihren Anfängen waren Jahre des radikalen Umbruchs. Eine Zeit großer Verwerfungen und großer Hoffnungen. Eine Zeit technischer Neuerungen. Bertolt Brecht formulierte damals in „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“: Wenn der Rundfunk es verstünde, den Zuhörer nicht nur hörend, sondern auch sprechend zu machen – dann wäre er „der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheueres Kanalsystem“. Erst das Internet sollte seine Vision Realität werden lassen.
Frenzel hätte es wahrscheinlich als Ort des demokratischen Austauschs begrüßt und Fehlentwicklungen – all den Hass, all die Hetze – gegeißelt. Werner Mittermaier, der in den 1960ern bei der Augsburger Allgemeinen eine Lehre als Verlagskaufmann antrat und sich schließlich als Geschäftsführer in den Ruhestand verabschiedete, sagt: „Curt Frenzel wäre mit Sicherheit derjenige gewesen, der die Digitalisierung, die Modernisierung der gesamten Informationstechnik nicht nur gewollt, sondern forciert hätte.“Frenzel, so Mittermaier, habe noch der Einführung der EDV, der elektronischen Datenverarbeitung, den Weg bereitet. „Machen Sie mal“, habe er zu ihm gesagt, und: „Da kann man noch sehr viel mehr machen.“Mit
Er sagte: „Ich habe mein Wort dafür gegeben.“
Er hatte keinen verklärten Blick auf die USA
einem „IBM 1130“sollte die Augsburger Allgemeine schließlich ins Computer-Zeitalter starten. Mit Technik „made in USA“.
Frenzels Verhältnis zu den USA war mit Sicherheit von tiefer Dankbarkeit geprägt. Einen verklärten Blick auf die Vereinigten Staaten und deren Presse-System hatte er dabei gleichwohl nicht. Die Freiheit der Berichterstattung, für die seine Zeitung und er als Lizenzträger und Chefredakteur einstanden, verteidigte er selbst(-verständlich) gegen die US-Pressekontrolle nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei konnte es auch mal lauter werden. Frenzel kannte die Vereinigten Staaten zudem. 1953 begleitete er Kanzler Adenauer auf dessen großer USAReise. Mit der „United States“ging es bei durchaus stürmischer See über den Atlantik. Währenddessen steht in der Autorenzeile stets: „Von unserem in den USA weilenden Chefredakteur Curt Frenzel“.
Über dem heute nicht mehr existenten Eingang des Flügels, in dem die Schwäbische Landeszeitung untergekommen war, stand in Stein gehauen das alte römische Zitat: „Mens sana in corpore sano – in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.“Auch das hatten die Nazis für ihr Grauen missbraucht. Für die Befreier davon, die amerikanischen GIs, war die schwere Holztür später ein beliebtes Fotomotiv. Die Reeducation, mit einer gut gemachten und von Frenzel verantworteten Zeitung, funktionierte.
Der Blick in die USA von heute hätte Curt Frenzel, der Zeitungen verschlang, vermutlich entsetzt. Dort gibt es Regionen ohne gedruckte Blätter. Die USA, das Vorbild für eine freie Presse – sie stecken in einer tiefen Medienkrise. Denn nicht nur Zeitungstitel gehen verloren, auch die unabhängige politische Berichterstattung im Fernsehen wird in Nischen gedrängt. Zwischen den rechten und linken TV-Sendern bleibt die Mitte auf der Strecke. Und mit ihr der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Im Peutinger, wo Bert Brecht einst Schüler war, haben sie im Eingangsbereich ein Zitat gerahmt. Es verdeckt ein Loch in der Wand. Curt Frenzel hätte es gefallen. Es lautet: „Ändere die Welt, sie braucht es.“