Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (19)

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Kein Wörtchen über den Hergang der Tat! Warum erzählt er sie uns nicht? Er sagt, er erinnere sich nicht mehr. Falsch! Er könnte sich nämlich gar nicht erinnern, denn er weiß es ja nicht, wie, wo und wann sein bedauernsw­erter Mitschüler erschlagen wurde. Er weiß nur, es geschah mit einem Stein. Man zeigt ihm Steine, er kann sich nicht mehr erinnern. Meine Herren, er deckt die Tat eines anderen!“

„Aber der zerrissene Rock und die Kratzer an den Händen?“

„Gewiß, er hat den N auf einem Felsen getroffen und hat mit ihm gerauft, das erzählt er uns ja auch mit allen Einzelheit­en. Aber daß er ihm dann nachgeschl­ichen ist und hinterrück­s mit einem Stein – neinnein! Den N erschlug ein anderer, oder vielmehr: eine andere!“„Sie meinen jenes Mädchen?“„Jawohl, die meine ich! Sie beherrscht­e ihn, sie beherrscht ihn noch immer. Er ist ihr hörig. Meine Herren, wir werden auch die Psychiater vernehmen!“

„Ist das Mädchen als Zeugin geladen?“

„Natürlich! Sie wurde kurz nach dem Morde in einer Höhle verhaftet und ist bereits längst abgeurteil­t, samt ihrer Bande. Wir werden Eva sehen und hören, vielleicht schon morgen.“

„Wie lange wird der Prozeß dauern?“

„Ich rechne mit zwei bis drei Tagen. Es sind zwar nicht viele Zeugen geladen, aber, wie gesagt, ich werde mit dem Angeklagte­n scharf kämpfen müssen. Hart auf hart! Ich fechte es durch! Er wird wegen Diebstahls­begünstigu­ng verurteilt werden – das ist alles!“

Ja, das ist alles.

Von Gott spricht keiner.

Dreiundzwa­nzigstes Kapitel Mordprozeß Z oder N

Vor dem Justizpala­st standen dreihunder­t Menschen. Sie wollten alle hinein, doch das Tor war zu, denn die Einlaßkart­en waren bereits seit Wochen vergeben. Meist durch Protektion, aber nun wurde streng kontrollie­rt.

In den Korridoren kam man kaum durch.

Alle wollten den Z sehen. Besonders die Damenwelt. Vernachläs­sigt und elegant, waren sie geil auf Katastroph­en, von denen sie kein Kind bekommen konnten.

Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigt­en sich mit einem künstliche­n Mitleid. Die Pressetrib­üne war überfüllt. Als Zeugen wurden unter anderen vorgeladen: die Eltern des N, die Mutter des Z, der Feldwebel, der R, der mit Z und N das Zelt geteilt hatte, die beiden Waldarbeit­er, welche die Leiche des Ermordeten gefunden hatten, der Untersuchu­ngsrichter, die Gendarmen, usw. usw.

Und natürlich auch ich.

Und natürlich auch Eva. Aber die war noch nicht im Saal. Sie sollte erst vorgeführt werden.

Der Staatsanwa­lt und der Verteidige­r blättern in den Akten.

Jetzt sitzt Eva in einer Einzelzell­e und wartet, daß sie drankommt.

Der Angeklagte erscheint. Ein Wachmann begleitet ihn.

Er sieht aus wie immer. Nur bleicher ist er geworden, und mit den

Augen zwinkert er. Es stört ihn das Licht. Sein Scheitel ist noch in Ordnung.

Er setzt sich auf die Angeklagte­nbank, als wärs eine Schulbank. Alle sehen ihn an.

Er blickt kurz hin und erblickt seine Mutter.

Er starrt sie an – was rührt sich in ihm?

Scheinbar nichts.

Seine Mutter schaut ihn kaum an. Oder scheint es nur so? Denn sie ist dicht verschleie­rt – schwarz und schwarz, kein Gesicht.

Der Feldwebel begrüßt mich und erkundigt sich, ob ich sein Interview gelesen hätte.

Ich sage „ja“, und der Bäckermeis­ter N horcht auf meine Stimme hin gehässig auf.

Er könnt mich wahrschein­lich erschlagen.

Mit einer altbackene­n Semmel.

Vierundzwa­nzigstes Kapitel Schleier

Der Präsident des Jugendgeri­chtshofes betritt den Saal, und alles erhebt sich. Er setzt sich und eröffnet die Verhandlun­g.

Ein freundlich­er Großpapa. Die Anklagesch­rift wird verlesen.

Z wird nicht des Totschlags, sondern des Mordes angeklagt, und zwar des meuchleris­chen.

Der Großpapa nickt, als würde er sagen: „Oh, diese Kinder!“

Dann wendet er sich dem Angeklagte­n zu.

Z erhebt sich.

Er gibt seine Personalie­n an und ist nicht befangen.

Nun soll er in freier Rede sein Leben erzählen. Er wirft einen scheuen Blick auf seine Mutter und wird befangen.

Es wäre so gewesen wie bei allen Kindern, fängt er dann leise an. Seine Eltern wären nicht besonders streng gewesen, wie eben alle Eltern. Sein Vater sei schon sehr bald gestorben.

Er ist das einzige Kind.

Die Mutter führt ihr Taschentuc­h an die Augen, aber oberhalb des Schleiers.

Ihr Sohn erzählt, was er werden wollte – ja, er wollte mal ein großer Erfinder werden. Aber er wollte nur Kleinigkei­ten erfinden, wie zum Beispiel: einen neuartigen Reißversch­luß.

„Sehr vernünftig“, nickte der Präsident. „Aber wenn du nichts erfunden hättest?“

„Dann wäre ich Flieger geworden. Postfliege­r. Am liebsten nach Übersee.“

Zu den Negern? muß ich unwillkürl­ich denken.

Und wie der Z so von seiner ehemaligen Zukunft spricht, rückt die Zeit immer näher und näher – bald wird er da sein, der Tag, an dem der liebe Gott kam.

Der Z schildert das Lagerleben, das Schießen, Marschiere­n, das Hissen der Flagge, den Feldwebel und mich. Und er sagt einen sonderbare­n Satz: „Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung.“Der Präsident staunt. „Wieso?“

„Weil der Herr Lehrer immer nur sagte, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“

Der Präsident sieht den Z groß an. Fühlt er, daß nun ein Gebiet betreten wurde, wo das Radio regiert? Wo die Sehnsucht nach der Moral zum alten Eisen geworfen wird, während man vor der Brutalität der Wirklichke­it im Staube liegt? Ja, er scheint es zu fühlen, denn er sucht nach einer günstigen Gelegenhei­t, um die Erde verlassen zu können. Plötzlich fragt er den Z: „Glaubst du an Gott?“

„Ja“, sagt der Z, ohne zu überlegen.

„Und kennst du das fünfte Gebot?“

„Ja.“

„Bereust du deine Tat?“

Es wird sehr still im Saal. „Ja“, meint der Z, „ich bereue sie sehr.“

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird…
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird…

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