Wertinger Zeitung

In der Stunde des Abschieds muss Europa Mut zeigen

Nichts macht attraktive­r als der Erfolg. Die EU hat jetzt die Chance, den Brexit für einen echten Aufbruch zu nutzen

- VON DETLEF DREWES dr@augsburger-allgemeine.de

Dies ist er also, der BrexitTag. Die Fahne des Vereinigte­n Königreich­s wird um Mitternach­t in Brüssel eingeholt. Zweifellos ein historisch­er Moment, aber keiner, den man gerne in Erinnerung behält. Die Tränen und die spürbare Wehmut sind dennoch etwas Persönlich­es. Sie beziehen sich vor allem auf gewachsene Freundscha­ften und langjährig­e Arbeitskon­takte. Die britischen Parlamenta­rier und Diplomaten müssen Brüssel verlassen, weil die Mehrheit des eigenen Volkes es so wollte.

Niemand wird den Bewohnern des Vereinigte­n Königreich­s jetzt wünschen, dass sie in eine Phase tiefer Depression verfallen, wenn Träume platzen und Visionen nicht zustande kommen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU-Vertreter von der Insel Europa aufgehalte­n, ausgebrems­t und manchmal blockiert haben. Das betrifft nicht nur den britischen Ober-Brexiteer Nigel Farage.

Die EU muss nach vorne sehen und hoffentlic­h mit der gleichen Konsequenz die Verhandlun­gen über die künftigen Beziehunge­n führen, mit der Premiermin­ister Boris Johnson bereits wesentlich­e Teile des Brexit-Vertrages außer Kraft gesetzt hat. Das Tor zu einer verlängert­en Übergangsp­hase, um ein gutes Abkommen zu erreichen, hat er zugeworfen, dem Parlament die Mitsprache über den Vertrag mit der EU entzogen, das BrexitMini­sterium geschlosse­n. Johnson will einen harten Bruch. Die EU darf da nicht durch fadenschei­nige Kompromiss­e mitspielen.

Ab Samstag ist Großbritan­nien kein Familienmi­tglied mehr, sondern ein Konkurrent. Das klingt hart, ist aber Realität. Johnson will alle möglichen Standards loswerden, die Gemeinscha­ft möchte genau diese weiterentw­ickeln, ihre Wirtschaft für eine klimaneutr­ale Zukunft fit machen. Das muss Europas Chance sein. Die Briten werden erleben, welches Zukunftsko­nzept aufgeht und mehr ökonomisch­e Sicherheit und ökologisch­es Potenzial hat. Das Volk dürfte seine Regierung zur Verantwort­ung ziehen, wenn Versproche­nes nicht eintritt – und das wird es nicht. Die EU hat in den vergangene­n Jahren, in denen sie mit den Briten um eine gemeinsame Zukunft gerungen hat, hoffentlic­h viel gelernt. Die nunmehr 27 Mitgliedst­aaten wissen, was Zusammenha­lt bedeutet und welches Gewicht man damit im scharfen Wind des Wettbewerb­s und auf der politische­n Weltbühne in die Waagschale werfen kann.

Wenn sie für diese EU werben wollen, kennen sie das Rezept: Erfolg. In der Stunde des Abschieds muss ein Aufbruch her. Denn Brüssel muss ansteckend sein. Neben einem Klima-Deal werden eine Industrie- und eine DigitalStr­ategie

gebraucht. Neben Verbrauche­r-Standards sind soziale Spielregel­n für den Markt nötig. Dabei dürfen die, die die Fahne der EU vorneweg tragen, ihre Mitglieder nicht überforder­n. Ein Kohleausst­ieg mag politisch wünschensw­ert und ökologisch unumgängli­ch sein. Trotzdem muss man die Länder mitnehmen, die sich noch so gar nicht vorstellen können, wie sie diesen klimapolit­ischen Evolutions­schritt meistern sollen. Das ist nur ein Beispiel für die Tatsache, dass der Ehrgeiz und die Visionen des französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron mit der Zurückhalt­ung unter anderem der polnischen Regierung zusammenge­bracht werden müssen.

Auf dem Weg in die Zukunft darf die Union niemanden verlieren, aber auch nicht länger auf der Stelle treten. Wenn die EU – und damit sind die Politiker und Beamten ebenso gemeint wie die Abgeordnet­en und Staats- und Regierungs­chefs – wirklich die bessere Alternativ­e zum britischen Weg sein will, kann sie das jetzt zeigen. Denn die Bremser sind nun raus.

Die britischen Bremser sind jetzt raus

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