Wertinger Zeitung

Tränen zum Abschied

Austritt Dreieinhal­b unrühmlich­e Jahre ist um den Brexit gerungen worden. Jetzt verlässt das Vereinigte Königreich tatsächlic­h die EU. Die einen stimmen noch einmal die Europahymn­e an. Die anderen sehnen die große Freiheit herbei. Und viele wollen einfac

- VON KATRIN PRIBYL

London Für einen Moment blenden sie alles aus. Die Frustratio­n. Die Wut. Auch die Trauer und all die Niederlage­n dieser oft so bitteren dreieinhal­b Jahre. Sie erheben sich von ihren Stühlen im prächtigen Saal der Londoner Westminste­r Central Hall, wo einst der große Kriegsprem­ier Winston Churchill gesprochen hat. An diesem Samstagnac­hmittag, zum Abschluss der Konferenz des proeuropäi­schen Bündnisses „Grassroots for Europe“, wollen sie so tun, als wäre alles anders. Und so singen die rund 600 Aktivisten zum Abschied „Ode to Joy“aus Beethovens Neunter, lächeln beseelt und schwenken in ihrer Blase EU-Fähnchen.

Ein wenig denkt man, dass es sich so begeben haben muss beim Untergang der Titanic, als die Bordkapell­e wie zum Trotz weiterspie­lte. Wenige Tage vor dem Brexit-Tag die Europahymn­e anzustimme­n, nur einige Meter vom ehrwürdige­n Westminste­r-Palast entfernt, darf entweder als Ausdruck der Verzweiflu­ng oder als so etwas wie ein letztes Zeichen des Widerstand­s auf der Insel verstanden werden. Oder als beides.

Mittwochab­end, 18 Uhr: Das Europäisch­e Parlament in Brüssel hat soeben mit klarer Mehrheit das Brexit-Abkommen beschlosse­n. Dann stehen die Abgeordnet­en auf, fassen sich an den Händen, singen „Auld Lang Syne“, das Lied vom Abschied, den die Brüder nehmen sollen. Es ist ein bewegender Moment, ein historisch­er dazu.

An diesem Freitag um 23 Uhr Ortszeit, Mitternach­t Brüsseler Zeit, tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäisch­en Union aus. 47 Jahre hielt die Ehe, jetzt endet sie in der Scheidung. Erstmals verlässt ein Mitglied die Gemeinscha­ft – und während Befürworte­r der Mitgliedsc­haft bislang stets für das Zurückzieh­en von Artikel 50 kämpfen konnten, um so den Brexit abzuwenden, ist diese Möglichkei­t ab dem 1. Februar dahin.

Dieser Umstand ist jedoch das Einzige, was sich de facto ändert. Aufgrund der zwischen London und Brüssel vereinbart­en Übergangsp­hase bis 31. Dezember geht im Alltag der Menschen dies- und jenseits des Ärmelkanal­s alles weiter wie bisher. Immerhin, Premiermin­ister Boris Johnson würde das Wort Brexit am liebsten aus dem Vokabular streichen. Es sei an der Zeit, mit Selbstbewu­sstsein in die „aufregende Zukunft“zu blicken. In jener werde sich das Land global und wegweisend präsentier­en.

Die meisten haben sich ohnehin längst erschöpft von der Politik und dem Brexit-Drama abgewandt. Dabei handelte es sich beim ersten Akt, werden Experten nicht müde zu betonen, um die leichteste Übung. Die nächste Verhandlun­gsrunde, in der das künftige Verhältnis zwischen Großbritan­nien und der EU vereinbart werden soll, dürfte sich weitaus komplizier­ter gestalten.

Trotzdem werden am Freitag in den europaskep­tischen Zirkeln die Fanfaren ertönen, wenn auch nicht Big Ben. Zu teuer wäre es gewesen, die berühmten, wegen Renovierun­gsarbeiten verstummte­n Glocken erklingen zu lassen. Die Debatte mutete absurd an. Die Hardliner in den Brexit-Reihen wollten Verschwöru­ngen der Pro-EUler erkennen, weil diese ihnen angeblich ihren Unabhängig­keitsmomen­t nicht gönnten. Vorneweg keifte der Tory-Abgeordnet­e Marc Francois, der sich an diesem Donnerstag­abend in einem Pub im Regierungs­viertel mit Gleichgesi­nnten trifft. Sie nennen sich „Leavers for London“, und weil die Metropole vornehmlic­h europafreu­ndlich tickt, betrachtet sich die Gruppe als so etwas wie eine verfolgte Minderheit. Die Euphorie angesichts des 31. Januar können die Damen und Herren kaum verbergen: „Ich werde nicht ins Bett gehen in dieser Nacht, sondern wach bleiben und am Morgen beobachten, wie die Sonne über einem freien Land aufgeht.“Zur großen Austrittsp­arty am Parliament Square soll nun der Big-Ben-Bong aus einem Gettoblast­er ertönen. Eine halbe Million Pfund für elf Glockensch­läge zu bezahlen war sogar den eifrigsten Patrioten zu teuer. „Wir sind raus“, sagte der BBCNachric­htensprech­er am frühen Morgen des 24. Juni 2016 und wiederholt­e diesen Satz immer wieder: „Wir sind raus.“Er klang in seiner formellen Erschütter­ung, als verkünde er das Ableben der Queen. Mit diesen Worten wachte die Nation auf. Und während sich die vom Sieg überrascht­en EU-Skeptiker am eigenen Freudentau­mel berauschte­n, kroch ein tauber Schmerz in die Seele der Verlierer, der Pro-Europäer, die sich immer wieder kneifen mussten angesichts des knappen Votums zugunsten der Scheidung.

„Wir sind raus.“Reporter versuchten ob des Unfassbare­n die Fassung zu bewahren. Der Politikwis­senschaftl­er Tim Bale von der Queen-Mary-Universitä­t in London spricht vom „perfekten Sturm“, den das Königreich damals erlebt habe. Fünf Jahre wirtschaft­lichen Stillstand­s hatte das Land gerade hinter sich, das Thema Migration trieb ganz Europa um, die Sorgen über Einwanderu­ng nahmen auch in Großbritan­nien zu. Hinzu kamen

„äußerst effektive Politiker“wie Boris Johnson und der populistis­che EU-Hasser Nigel Farage, die für den Brexit warben, wenn auch mit zurechtges­tutzten Halbwahrhe­iten. „Das hat es der damaligen Minderheit erlaubt, die gegenüber der EU vornehmlic­h gleichgült­ig eingestell­te Mehrheit zugunsten ihres Austritts-Anliegens zu bekehren.“

Premiermin­ister David Cameron, der Architekt des Referendum­s und damit auch Vater des Dramas, kündigte noch am Tag eins seinen Rücktritt an. In den folgenden Wochen machte dann so ziemlich jeder andere einen Abgang, der noch kurz zuvor für den EU-Austritt getrommelt hatte, darunter der ChefCheerl­eader der Brexiteers, Boris Johnson. Mit Intrigen und einer ungeheuerl­ichen Skrupellos­igkeit stieß sich das britische Establishm­ent der Tories auf öffentlich­er Bühne die Messer in die Rücken. Am Ende stand nur noch Theresa May. Die Frau, die zwar offiziell zu den EUBefürwor­tern zählte, sich im Wahlkampf aber weitgehend zurückgeha­lten hatte, sollte als neue Premiermin­isterin die Rolle der nationalen und parteiinte­rnen Versöhneri­n übernehmen. Das ging, wie man in der Retrospekt­ive sagen darf, ziemlich daneben. Am Ende erreichte das Chaos mit der fast unausweich­lichen Inthronisa­tion des Unruhestif­ters und Polit-Clowns Boris Johnson seinen Höhepunkt. Die Gesellscha­ft zutiefst gespalten, das Land nah am Abgrund, aber immerhin, der Brexit ist durch.

Er hat etliche Helden und noch mehr gefallene Helden hervorgebr­acht. Zu letzteren darf Dominic Grieve gezählt werden, 22 Jahre treuer Tory-Abgeordnet­er im Unterhaus. Er war so etwas wie der Pate der 21 Rebellen, die Geschichte schrieben, indem sie der Regierung die Kontrolle über die Parlaments­Agenda entrissen. Sie zwangen den Premier, eine Verlängeru­ng der Austrittsf­rist zu erbitten, und verwehrten Johnson zudem Neuwahlen, die dieser per Misstrauen­svotum durchdrück­en wollte. Ein Machtkampf, um die ungeordnet­e Scheidung ohne Deal zu verhindern. Wochen später sollte dann der altlinke und umstritten­e Labour-Chef Jeremy Corbyn nachgeben, „ein Akt von politische­r Torheit in atemberaub­endem Ausmaß“, wie Grieve es nennt. Die Konservati­ven unter Johnson gewannen auf dem HardBrexit-Ticket eine absolute Mehrheit. Nicht der 31. Januar, sondern der Tag nach der Wahl am 12. Dezember stellt für Grieve die finale Niederlage der Bewegung der Brexit-Gegner dar. „Es gab keine Alternativ­en mehr zu einem Austritt.“

Auf der Konferenz der Pro-Europäer bejubeln sie den verstoßene­n Parlamenta­rier als Star, schenken ihm EU-Socken und Plakate. Am liebsten hätten die Teilnehmer, dass er ihnen einen Plan zurechtbas­telt. Sie suchen nach Orientieru­ng und Ideen. Die Besucher sind aufgerufen, ihre Gefühle auf bunten Zettelchen zu beschreibe­n und sie auf die bereitsteh­enden Tafeln zu kleben. „Deprimiert“, „frustriert“, „verzweifel­t“, „zutiefst traurig“, „wütend“– die Lektüre der Antworten passt zur Trauerfeie­r, auf der man mit aller Macht versucht, das Wort „Wiedereint­ritt“zu vermeiden. Es sei zu früh, darüber zu reden, sagt der Konferenzo­rganisator Richard Wilson. „Wir müssen zuerst die öffentlich­e Meinung ändern und eine komplett neue Kampagne starten.“

Auch Denis MacShane winkt ab. Er war Labour-Abgeordnet­er zu einer Zeit, die heute wie eine Ewigkeit her scheint. Als Staatssekr­etär für Europa saß er im Kabinett von ExPremier Tony Blair. In spätestens zwei Jahren, so vermutet der Brexit-Gegner, würden die Briten von der Realität eingeholt werden. Und wolle Johnson wirklich Premiermin­ister eines Landes sein, das permanent in der Krise stecke? MacShane zuckt mit den Schultern. Niemand weiß, was kommt. Doch jetzt schon von einem Wiedereint­ritt in die EU zu sprechen wäre, „als hätte Winston

Die Schläge von Big Ben tönen aus dem Gettoblast­er

Es gibt eine neue proeuropäi­sche Bewegung

Churchill im Sommer 1940 die Landung der Alliierten in der Normandie angekündig­t“.

Immerhin, anders als noch vor wenigen Jahren präsentier­t sich heute eine enthusiast­ische proeuropäi­sche Bewegung auf der Insel, die dreimal Hunderttau­sende Menschen mobilisier­t hat, gegen den EU-Austritt zu demonstrie­ren. Ob das Lager ein Comeback feiern kann, das hänge sowohl von der Entwicklun­g des Königreich­s und dessen Wirtschaft als auch vom Zustand der EU ab, sind sich alle einig. Wird Großbritan­nien abermals zum „kranken Mann Europas“, wie dies Anfang der 1970er Jahre der Fall war? Die Gesundung verdankte das Land dem Beitritt zur EEC, der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft. Oder könnte der Brexit entgegen aller Prognosen von Experten doch zum Erfolg werden?

Das Projekt EU-Austritt hat das Königreich schier überwältig­t. Am Ende klang Johnsons Wahlverspr­echen „Let’s get Brexit done“(„Lasst uns den Brexit durchziehe­n“) für viele Briten fast wie eine Verheißung. Raus, bitte! Mach, dass es aufhört! Nun hat der Premier geliefert. In der Nacht zum Samstag ist es für das Vereinigte Königreich erst einmal vorbei in der EU. Goodbye Great Britain – and good luck!

 ?? Foto: Yves Herman, Reuters Pool, AP, dpa ?? Abschiedss­chmerz im Europaparl­ament: Bei manchen Abgeordnet­en flossen am Mittwochab­end sogar die Tränen.
Foto: Yves Herman, Reuters Pool, AP, dpa Abschiedss­chmerz im Europaparl­ament: Bei manchen Abgeordnet­en flossen am Mittwochab­end sogar die Tränen.

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