Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (20)
SEin Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitaristische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauensbrechend und widerrechtlich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird…
ie klang aber unecht, die Reue. Das Verhör wandte sich dem Mordtag zu. Die Einzelheiten, die bereits jeder kannte, wurden abermals durchgekaut.
„Wir sind sehr früh fortmarschiert“, erzählt der Z zum hundertstenmal, „und sind dann bald in einer Schwarmlinie durch das Dickicht gegen einen Höhenzug vorgerückt, der von dem markierten Feinde gehalten wurde.
In der Nähe der Höhlen traf ich zufällig den N. Es war auf einem Felsen. Ich hatte eine riesige Wut auf den N, weil er mein Kästchen erbrochen hat. Er hat es zwar geleugnet.“
„Halt!“unterbricht ihn der Präsident.
„Der Herr Lehrer hat es hier in den Akten vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben, daß du ihm gesagt hättest, der N hätte es dir gestanden, daß er das Kästchen erbrochen hat.“
„Das hab ich nur so gesagt.“„Warum?“
„Damit kein Verdacht auf mich fällt, wenn es herauskommt.“„Aha. Weiter!“
„Wir gerieten also ins Raufen, ich und der N, und er warf mich dabei fast den Felsen hinab – da wurde es mir rot vor den Augen, und ich sprang wieder empor und warf ihm den Stein hinauf.“
„Auf dem Felsen?“„Nein.“
„Sondern wo?“
„Das hab ich vergessen.“Er lächelt.
Es ist nichts aus ihm herauszubekommen.
Er erinnert sich nicht mehr. „Und wo setzt sie wieder ein, deine Erinnerung?“
„Ich ging ins Lager zurück und schrieb es in mein Tagebuch hinein, daß ich mit dem N gerauft habe.“
„Ja, das ist die letzte Eintragung, aber du hast den letzten Satz nicht zu Ende geschrieben.“
„Weil mich der Herr Lehrer gestört hat.“
„Was wollte er von dir?“
„Ich weiß es nicht.“
„Nun, er wird es uns schon erzählen.“
Auf dem Gerichtstisch liegt das Tagebuch des Z, ein Bleistift und ein Kompaß. Und ein Stein.
Der Präsident fragt den Z, ob er den Stein wiedererkenne?
Der Z nickt ja.
„Und wem gehört der Bleistift, der Kompaß?“
„Die gehören nicht mir.“„Sie gehören dem unglücklichen N“, sagt der Präsident und blickt wieder in die Akten. „Doch nein! Nur der Bleistift gehört dem N! Warum sagst du es denn nicht, daß der Kompaß dir gehört?“
Der Z wird rot.
„Ich hab es vergessen“, entschuldigt er sich leise.
Da erhebt sich der Verteidiger: „Herr Präsident, vielleicht gehört der Kompaß wirklich nicht ihm.“„Was wollen Sie damit sagen?“„Damit will ich sagen, daß dieser fatale Kompaß, der dem N nicht gehört, vielleicht auch dem Z nicht gehört, sondern vielleicht einer dritten Person. Bitte mal den Angeklagten zu fragen, ob wirklich niemand dritter dabei war, als die Tat geschah.“
Er setzte sich wieder, und der Z wirft einen kurzen, feindseligen Blick auf ihn.
„Es war keinerlei dritte Person dabei“, sagt er fest.
Da springt der Verteidiger auf: „Wieso erinnert er sich so fest daran, daß keine dritte Person dabei war, wenn er sich überhaupt nicht erinnern kann, wann, wie und wo die Tat verübt wurde?!“
Aber nun mischt sich auch der Staatsanwalt ins Gespräch.
„Der Herr Verteidiger will anscheinend darauf hinaus“, meint er ironisch, „daß nicht der Angeklagte, sondern der große Unbekannte den Mord vollführte. Jawohl, der große Unbekannte.“
„Ich weiß nicht“, unterbricht ihn der Verteidiger, „ob man ein verkommenes Mädchen, das eine Räuberbande organisierte, ohne weiteres als große Unbekannte bezeichnen darf.“
„Das Mädel war es nicht“, fällt ihm der Staatsanwalt ins Wort, „sie wurde weiß Gott eingehend genug verhört, wir werden ja auch den Herrn Untersuchungsrichter als Zeugen hören – abgesehen davon, daß ja der Angeklagte die Tat glatt zugibt, er hat sie sogar sogleich zugegeben, was auch in gewisser Hinsicht für ihn spricht.
Die Absicht der Verteidigung, die Dinge so hinzustellen, als hätte das Mädchen gemordet und als würde der Z sie nur decken, führt zu Hirngespinsten!“
„Abwarten!“lächelt der Verteidiger und wendet sich an den Z:
„Steht es nicht schon in deinem Tagebuch, sie nahm einen Stein und warf ihn nach mir – und wenn der mich getroffen hätte, dann wär ich jetzt hin?“
Der Z sieht ihn ruhig an. Dann macht er eine wegwerfende Geste.
„Ich hab übertrieben, es war nur ein kleiner Stein.“
Und plötzlich gibt er sich einen Ruck.
„Verteidigen Sie mich nicht mehr, Herr Doktor, ich möchte bestraft werden für das, was ich tat!“
„Und deine Mutter?“schreit ihn sein Verteidiger an.
„Denkst du denn gar nicht an deine Mutter, was die leidet?! Du weißt ja nicht, was du tust!“
Der Z steht da und senkt den Kopf.
Dann blickt er auf seine Mutter. Fast forschend.
Alle schauen sie an, aber sie können nichts sehen vor lauter Schleier.
Vor Einvernahme der Zeugen schaltet der Präsident eine Pause ein. Es ist Mittag. Der Saal leert sich allmählich, der Angeklagte wird abgeführt. Staatsanwalt und Verteidiger blicken sich siegesgewiß an.
Ich gehe in den Anlagen vor dem Justizpalast spazieren. Es ist ein trüber Tag, naß und kalt.
Die Blätter fallen – ja, es ist wieder Herbst geworden. Ich biege um eine Ecke und halte fast.
Aber ich gehe gleich weiter. Auf der Bank sitzt die Mutter des Z.
Sie rührt sich nicht.
Sie ist eine mittelgroße Dame, fällt es mir ein.
Unwillkürlich grüße ich. Sie dankt jedoch nicht.
Wahrscheinlich hat sie mich gar nicht gesehen.
Wahrscheinlich ist sie ganz anderswo.
Die Zeit, in der ich an keinen Gott glaubte, ist vorbei. Heute glaube ich an ihn. Aber ich mag ihn nicht. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Zeltlager mit dem kleinen R spricht und den Z nicht aus den Augen läßt. Er muß stechende, tückische Augen haben – kalt, sehr kalt. Nein, er ist nicht gut.
Warum läßt er die Mutter des Z so sitzen? Was hat sie denn getan? Kann sie für das, was ihr Sohn verbrach? Warum verurteilt er die Mutter, wenn er den Sohn verdammt?
Nein, er ist nicht gerecht.
Ich will mir eine Zigarette anzünden. Zu dumm, ich hab sie zu Hause vergessen!