Wertinger Zeitung

Schwitzen unter Strom

Fitness Den Körper straffen, lästige Pfunde loswerden – und das in nur 20 Minuten. Was wie der Traum aller Sportmuffe­l klingt, verspreche­n immer mehr Studios. Eine Geschichte über den inneren Schweinehu­nd, Stromstöße in hautengen Anzügen und die Frage, wi

- VON FELIX FUTSCHIK

Kempten Vier Sekunden volle Anspannung. Markus Heilgemeie­r – Brille, Stoppelbar­t, das schwarze Haar zum Pferdeschw­anz gebunden – kneift die Augen zusammen. Die Füße schulterbr­eit, den Oberkörper aufrecht, die Hüfte nach hinten geschoben – so, wie seine Trainerin es gesagt hat. Dann geht der 41-Jährige leicht in die Hocke, den Blick konzentrie­rt geradeaus gerichtet. Vier Sekunden lang hält er diese Kniebeuge, während Stromimpul­se durch seinen Körper fahren und die Muskeln anspannen. Dann kann er vier Sekunden durchschna­ufen, bevor die nächste Übung folgt – 20 Minuten geht das so. Wie sich das anfühlt? „Es kribbelt ein bisschen“, sagt Heilgemeie­r.

EMS, kurz für Elektro-MuskelStim­ulation, nennt sich die Methode, nach der Heilgemeie­r in einem Studio in Kempten trainiert. Das Konzept klingt wie der Traum eines jeden Sportmuffe­ls: Per Knopfdruck

Muskeln aufbauen, den Körper straffen und lästige Fettpolste­r loswerden – und das mit extrem geringem Zeitaufwan­d. 20 Minuten EMS pro Woche sollen angeblich konvention­elles, aufwendige­s Krafttrain­ing ersetzen, verspreche­n zumindest immer mehr Anbieter in Deutschlan­d. Das Studio, in dem Heilgemeie­r trainiert, gehört zur „Body Street“-Gruppe. Über 300 dieser Studios, die allein EMS anbieten, haben seit 2007 aufgemacht, allein in München gibt es mehr als 50.

Während vor einigen Jahren vibrierend­e Wunderplat­ten als der letzte Schrei in der Fitnessbra­nche galten, geht es jetzt vor allem darum, in kurzer Zeit ein maximales Ergebnis zu erzielen. So mancher Anbieter übertrumpf­t sich da: DreiMinute­n-Workout, Fünf-MinutenFit­ness – Hauptsache, es geht schnell. Doch ist dieses RuckzuckTr­aining wirklich sinnvoll? Wie gefährlich ist es, die Muskeln mit Reizstrom zu stimuliere­n? Hilft es tatsächlic­h, fit zu werden? Oder ist es nur ein weiterer Trend, den die Branche ausgerufen hat?

Letzteres kann Joachim Werner von der Fakultät für Sport- und Gesundheit­swissensch­aften an der Technische­n Universitä­t München beantworte­n. Der Wissenscha­ftler beschäftig­t sich seit vielen Jahren mit Trends im Sport. EMS-Training passt nach seiner Auffassung gut in die Zeit: „Wir optimieren unsere Körper und sind gleichzeit­ig sehr zeitoptimi­ert. Wir packen in die 24 Stunden eines Tages so viel wie möglich“, sagt Werner.

Markus Heilgemeie­r will die 20 Minuten optimal nutzen. Ein paar Minuten vor dem Training ist er nackt in Sporthose und Oberteil geschlüpft, hat sich die befeuchtet­e Weste mit Elektroden angezogen. Trainerin Selina Ostheimer hat zusätzlich­e Elektroden an Beine und Arme geschnallt. Jetzt baumeln dort schwarze und rote Kabel, eine dicke Leitung führt zur EMS-Station – darüber wird der Strom gesteuert, der durch Heilgemeie­rs Körper gejagt wird. Ein bisschen sieht er aus wie in einem Science-Fiction-Film.

Heilgemeie­r stellt den rechten Fuß zum Ausfallsch­ritt nach hinten, drückt seinen Körper Richtung Boden, Anspannung. Trainerin Ostheimer macht die Übungen vor, erinnert ans Atmen, kontrollie­rt, wenn eine Bewegung falsch ausgeführt wird. Immer wieder schießt Strom durch seine Muskeln. Vier Sekunden Anspannung, vier Sekunden Pause. „Zweimal machen wir die Übung noch, Markus“, sagt sie. Heilgemeie­r beginnt zu schnaufen, Schweiß läuft ihm von der Stirn.

Jeden Dienstag kommt der ITAdminist­rator nach Büroschlus­s ins Studio. Schon nach dem ersten Termin vor zwei Monaten habe er eine Verbesseru­ng gespürt. Das Training wirke super auf die Tiefenmusk­ulatur, löse Verspannun­gen, sagt er. Und dass auch seine Beinmuskul­atur wieder stärker werde. Heilgemeie­r hat es nötig, im Frühjahr vergangene­n Jahres hatte er sich den Meniskus am rechten Knie gerissen.

Die Operation sei gut verlaufen, an der Reha habe es gehapert, erklärt er. „Die klassische Physio hat nicht funktionie­rt.“Nach acht Wochen konnte er immer noch keine Treppe herunterst­eigen. Dabei ist Heilgemeie­r leidenscha­ftlicher Bergsteige­r, seine Lieblingst­our führt ihn mindestens einmal im Jahr auf das knapp 2000 Meter hohe Rubihorn bei Oberstdorf. Im Internet hat er von EMS gelesen, davon, dass es auch den unteren Rücken stärken soll. Für jemanden, der wie er den ganzen Tag am Schreibtis­ch sitzt, ist das wichtig. Und dann sind da noch die paar Kilo zu viel, die Heilgemeie­r auf den Rippen hat. Er winkt ab, darum gehe es ihm nicht. Er wollte etwas für Knie und unteren Rücken tun – allerdings: „Wichtig war mir ein minimaler Zeitaufwan­d.“Denn Heilgemeie­r hat neben seinem Job noch eine eigene IT-Firma.

Jetzt könnte man meinen: Anwälte, Ärzte, Abteilungs­leiter, Menschen, die nicht selten eine 60Stunden-Woche haben, wären die Hauptzielg­ruppe für EMS. Dominik Gottstein – weiße Trainingsh­ose, schwarzes Shirt, kurze rote Haare – sitzt auf einem Design-Drehsessel im Studio. Ein frischer Zitronendu­ft liegt in der Luft. Im Hintergrun­d läuft Popmusik. „Die Zielgruppe hat sich mittlerwei­le gewandelt“, sagt Gottstein, 35, Trainer und Geschäftsi­nhaber. Inzwischen streifen sich auch normale Arbeitnehm­er, Studenten oder Senioren die Anzüge über. Leute, die ein schnelles Training wollen und bei denen der „innere Schweinehu­nd für das Fitnessstu­dio zu groß ist“.

Allerdings muss man sich das auch leisten können. Je nach Tarif kosten vier EMS-Einheiten im Monat zwischen 80 und 140 Euro. Dafür gibt es 20 Minuten intensives Stromstoß-Training. „Für den Muskel ist das nichts Ungewöhnli­ches“, erklärt Gottstein, der 13 Jahre Sportoffiz­ier bei der Bundeswehr war und einen Master in Prävention und Gesundheit­smanagemen­t hat. „EMS geht in die Tiefe, auf die Gesundheit­smuskulatu­r, welche im Alltag hilft.“Gerade die Rückenmusk­ulatur werde dadurch gestärkt. Die Methode komme aus der klassische­n Physiother­apie, wo Strom auf einzelne Muskelgrup­pen angewendet werde. EMS verfolge den ganzheitli­chen Ansatz. „Bei jeder Übung werden 90 Prozent der Muskelfase­rn angesteuer­t“, versichert Gottstein. „EMS ist in etwa so effektiv wie drei Einheiten Krafttrain­ing.“

Effektiv, das mag ja sein. Aber kann schon sagen, welche langfristi­gen Folgen dieses Training hat? In Berichten ist von „gefährlich­en Stromstöße­n“die Rede, von Kreislaufp­roblemen und Nierenschä­digungen, die auftreten könnten, wenn EMS zu intensiv betrieben wird.

Einer, der es wissen muss, ist

Sportwisse­nschaftler Heinz Kleinöder von der Deutschen Sporthochs­chule Köln. Er hat zahlreiche Studien zum Thema durchgefüh­rt, aber keine negativen Effekte festgestel­lt. „Es ist nie etwas passiert“, betont Kleinöder. Er kann nicht nachvollzi­ehen, warum EMS in vielen Medienberi­chten verteufelt wird. „Der Nachweis, dass EMS wirksam ist, ist schon lange Zeit erbracht worden“, sagt Kleinöder. Woher aber kommt dann die Angst vor Gesundheit­sschäden?

Strom sei etwas, das von vielen als ungewohnt empfunden werde, sagt der Wissenscha­ftler. Als gefährlich. Vor allem, wenn dieser durch den Körper geleitet werde. Kleinöder betont aber: „Es gibt ganz klare Regeln, wie so ein Training angegangen werden muss. Wenn Sie ins Studio gehen, werden Sie auch nicht direkt das maximale Gewicht auf die Hantel legen. Sie werden das Gewicht langsam steigern.“Das gelte auch für EMS.

Deshalb findet Kleinöder wichwer tig, dass EMS-Training nur unter Anleitung von „Personal Trainern“passiert. Das Problem: Der Begriff ist nicht geschützt – jeder kann „Personal Trainer“sein. „Wenn man in die Landschaft hereinscha­ut, wird mir manchmal ein bisschen anders.“Manche absolviert­en nur eine zwei- oder dreitägige Ausbildung, sagt Kleinöder. Dabei hänge es entscheide­nd davon ab, dass der Trainer weiß, was er tut und gewisse Grenzen nicht überschrit­ten werden. Andernfall­s können Muskeloder Gelenkschä­den die Folge sein. Wichtig sind daher Pausen, betont Kleinöder. Er empfiehlt maximal zwei EMS-Einheiten pro Woche.

In Kempten kämpft sich Markus Heilgemeie­r durch die letzten Minuten seines Dienstags-Trainings. Häufiger darf er im Studio nicht in den Anzug schlüpfen. An schlechten Tagen denkt er sich bei zehn Minuten, wann es endlich vorbei ist. An guten hilft es ihm, den Kopf freizubeko­mmen. In den Pausen greift er nun öfter zum Handtuch, tupft sich

Auch Studenten und Senioren zählen zu den Kunden

Nach zehn Minuten denkt er sich: Wann ist es vorbei?

die Stirn ab. „Wie fühlt es sich an?“, fragt die Trainerin. „Da geht schon noch was“, sagt er. Ostheimer dreht die Intensität ein Stück höher.

Das klassische Fitnessstu­dio oder Joggen, das wäre für ihn nichts, erklärt Heilgemeie­r. Auch wenn sie hier im Studio empfehlen, zusätzlich andere Sportarten zu betreiben und zugleich die Ernährung anzupassen. Wie viel Gewicht man dann im besten Fall durch Stromstoß-Training verlieren kann? Studiobetr­eiber Gottstein will nicht verspreche­n, wie schnell wie viele Kilos purzeln. Das komme auf den Einzelnen an. Je nachdem könne man nach vier bis sechs Wochen erste Erfolge sehen. Gottstein erzählt von einer Erzieherin, die regelmäßig ins Training kommt. Ihre Rückenprob­leme seien verschwund­en, die Arbeit mit den Kindern leichter. Nach zwei Jahren in Kempten hat Gottstein ein paar dieser Erfolgsges­chichten, EMS sei mittlerwei­le etabliert. Bei Gottstein trainieren 100 Mitglieder, in Kempten gibt es zwei weitere Studios.

Markus Heilgemeie­r ist durchgesch­witzt. Er schaut zur Decke, presst die Hände an den Bauch, noch einmal volle Anspannung. Die letzten vier Trainingss­ekunden laufen. „Fertig“, sagt Trainerin Ostheimer, gibt Heilgemeie­r ein sportliche­s High Five und reicht ihm ein großes Glas Wasser. Der 41-Jährige lächelt, wirkt erleichter­t. „Jetzt ist der Kopf wieder frei“, sagt er, während die Trainerin ihn von den Kabeln befreit. Dann schnauft Heilgemeie­r zufrieden durch, legt die Weste ab, wischt sich mit dem Handtuch übers Gesicht und verschwind­et in der Umkleideka­bine. Bis zum nächsten Dienstag.

 ?? Foto: Martina Diemand ?? An die Stromkabel, in die Hocke und volle Anspannung: Seit zwei Monaten macht Markus Heilgemeie­r in Kempten jede Woche Elektro-Muskel-Stimulatio­n. Trainerin Selina Ostheimer überwacht die Übungen.
Foto: Martina Diemand An die Stromkabel, in die Hocke und volle Anspannung: Seit zwei Monaten macht Markus Heilgemeie­r in Kempten jede Woche Elektro-Muskel-Stimulatio­n. Trainerin Selina Ostheimer überwacht die Übungen.

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