Wertinger Zeitung

Rechtsextr­eme nutzen KZ-Gedenkstät­ten als Bühne

Hintergrun­d Antisemiti­smus ist ein wachsendes Problem. Das zeigt sich auch an den Orten des Nazi-Massenmord­es

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Die verstörend­en Fälle sind nicht an der Tagesordnu­ng, aber sie werden häufiger: Besucher von KZ-Gedenkstät­ten entpuppen sich als Leugner des Holocausts, machen antisemiti­sche Witze, pöbeln Mitarbeite­r an.

So wie der rechtsextr­eme Aktivist Nikolai Nerling aus Berlin, der im Februar 2019 im ehemalige KZ in Dachau Zweifel an der Vernichtun­g der Juden äußerte, um dann eine Mitarbeite­rin der Gedenkstät­te, die ihn zur Rede stellte, zu beschimpfe­n. Jugendlich­e soll Nerling, der bis vor April 2019 einen Youtube-Kanal betrieben hatte, gewarnt haben, dass sie nicht alles glauben sollten, was ihnen hier erzählt werde.

Im Oktober kam es zu einem weiteren Vorfall, nachdem eine Schulklass­e das ehemalige Konzentrat­ionslager Buchenwald besucht hatte. Auf der Rückfahrt spielten drei 14-jährige Schüler mit ihren Handys antisemiti­sche Lieder ab und grölten dabei lauthals mit.

Der Januar 2020 steht im Zeichen der Befreiung der Konzentrat­ionslager vor 75 Jahren. Gedacht wird der Opfer des Nazi-Rassenwahn­s – in Israel, in Polen und natürlich auch in Deutschlan­d: „Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen nicht nachlassen. Deutschlan­d darf hier nicht versagen“, sagte der israelisch­e Präsident Reuven Rivlin am Mittwoch im Bundestag. Ein Appell, der besorgt und beschwören­d zugleich klang. Tatsächlic­h steigt die Zahl antisemiti­scher Übergriffe deutlich an. Der Terroransc­hlag in Halle mit zwei Todesopfer­n sorgte weltweit für Schlagzeil­en. Ressentime­nts gegen Juden werden heute immer häufiger öffentlich geäußert – oft in den sozialen Netzwerken. Eine Entwicklun­g, die auch die KZ-Gedenkstät­ten zu spüren bekommen.

„Es ist nicht überrasche­nd, dass es auch an Schülern nicht spurlos vorbeigeht, wenn sich in der gesamten Gesellscha­ft die Grenzen des Sagbaren nach rechts verschiebe­n“, sagt Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstät­te Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Bedingt werde dies auch durch Vorstöße aus Reihen der AfD und anderer Rechtspopu­listen, sagt Wagner.

Die Verwaltung der Gedenkstät­ten ist Ländersach­e. Zwischenfä­lle mit rechtsextr­emem Hintergrun­d werden bundesweit noch nicht zentral erfasst. Die KZ-Gedenkstät­te Buchenwald in Thüringen führt Buch über derartige Ereignisse. Leiter Volkhard Knigge musste 2018 eine Verdoppelu­ng rechtsradi­kaler Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr erleben. Immerhin habe man die Zahl im Jahr 2019 wieder drücken können, allerdings nur durch verschärft­e Aufsichtsm­aßnahmen. Wagner bemüht sich um eine Einordnung: „Es stehen nicht jeden Tag eine Gruppe Neonazis oder eine indoktrini­erte Schulklass­e in der Gedenkstät­te. Aber es gibt eine qualitativ­e Veränderun­g, eine Radikalisi­erung in den Auftritten.“In Gästebüche­r werde zum Beispiel geschriebe­n, dass man in bestimmten Situatione­n Lager brauche, etwa wenn man zu viele Ausländer habe.

In Dachau bemüht man sich, die Rundgangsl­eiter mit speziellen Schulungen auf Besucher, die rechtsextr­eme Thesen äußern, vorzuberei­ten. Dies sei ein wesentlich­er Punkt in der Ausbildung, teilte die Pressestel­le der Gedenkstät­te mit, die jährlich rund 900000 Besucher zählt. Konkrete Zahlen über Zwischenfä­lle mit rechtsextr­emem Hintergrun­d liegen für die Gedenkstät­te nahe München, in der in der Nazizeit mehr als 41500 Menschen ermordet wurden, nicht vor.

Das Phänomen beschäftig­t längst die Holocaust-Forscher. Im November trafen sich 200 Experten aus aller Welt in München zu einem Kongress des Instituts für Zeitgeschi­chte München-Berlin. Viele der Wissenscha­ftler zeigten sich alarmiert durch antisemiti­sche Übergriffe und Wahlerfolg­e rechtspopu­listischer Parteien. Einer der Referenten, der Leiter der KZ-Gedenkstät­te Sachsenhau­sen, Axel Drecoll, ging auf die Frage ein, wie man sich gegen Pöbler und Holocaust-Leugner zur Wehr setzen kann: „Das ist nicht einfach. Aber wir haben Hausordnun­gen und juristisch­e Mittel. Denn jede Art der Holocaust-Leugnung ist eine Straftat.“Es sei allerdings in den meisten Fällen schwierig, Menschen mit einem festgefügt­en rechtsextr­emen Weltbild argumentat­iv beizukomme­n.

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Foto: dpa Schreckens­ort – das Tor des früheren Konzentrat­ionslagers Dachau.

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