Wertinger Zeitung

„Der Brexit ist in vielerlei Hinsicht ein Unfall“

Interview Der Politologe Tim Bale erklärt, wie es zum historisch­en EU-Austritt kommen konnte und wie die Chancen eines Wiedereint­ritts stehen

- Interview: Katrin Pribyl

Dreieinhal­b Jahre nach dem Referendum ist es nun so weit, die Briten treten aus der EU aus. Wenn Sie zurückblic­ken, wie konnte es zu diesem demokratis­chen Betriebsun­fall kommen? Tim Bale: Die Entscheidu­ng muss im Kontext der vergangene­n 40 Jahre gesehen werden. Hier ist ein Land, das nie vollkommen akzeptiert hat, dass es eine europäisch­e Bestimmung haben soll. Wenn man sich die Meinungsum­fragen seit den siebziger Jahren anschaut, dann war das Gefühl einer europäisch­en Identität stets auffallend schwach. Die Möglichkei­t, dass diese Gleichgült­igkeit von Menschen ausgenutzt werden könnte, die die EU verlassen wollen, bestand immer. Hinzu kommt das Versagen der proeuropäi­schen politische­n Klasse, den Wählern die Idee von Europa zu verkaufen. Wir hatten nie wirklich Politiker, die besonders für Europa eingetrete­n sind, zumindest seit Premiermin­ister Edward Heath und dem Referendum 1975.

Würden Sie den Brexit als Produkt des englischen Nationalis­mus bezeichnen?

Bale: Es hat damit zu tun, aber beim Brexit-Votum handelt es sich in vielerlei Hinsicht um eine sehr zufällige Geschichte. Wir haben im Kontext von 2016 den perfekten Sturm erlebt aus einer stagnieren­den Wirtschaft, einer zunehmende­n Sorge über Migration und äußerst effektiven Politikern, die bereit waren, für den Brexit zu werben. Das hat es der damaligen Minderheit erlaubt, die gleichgült­ige Mehrheit zugunsten von „Leave“zu bekehren, ob vorübergeh­end oder langfristi­g. Ich bezweifele, dass die Europaskep­tiker gewonnen hätten ohne Boris Johnson oder Nigel Farage.

Der Europaabge­ordnete Farage ist Chef der Brexit-Partei und lebenslang­er EU-Hasser. Er, wie etliche Gleichgesi­nnte, reden oft von den angeblich guten alten Zeiten. Ist der Brexit auch Ausdruck einer Sehnsucht nach einem Empire 2.0?

Bale: Es liegt eine gewisse Nostalgie im Anliegen, aus der EU auszutrete­n. Aber es würde vermutlich zu weit gehen, von einem Wunsch nach einer Wiederhers­tellung des British Empire zu sprechen. Es herrscht der Glaube vor, dass sowohl die Zukunft als auch die Vergangenh­eit Großbritan­niens gewisserma­ßen verbunden sind mit einer weiteren Sicht auf die Welt, von der man ein Teil sein will. Das Vermächtni­s des Empire ist, dass viele Briten die Vorstellun­g haben, dass unsere Außenpolit­ik, unsere Diplomatie und unsere Wirtschaft sehr viel weiter reichen als lediglich bis auf den Kontinent.

Wie würden Sie das Weltbild der Brexit-Befürworte­r beschreibe­n?

Bale: Das beinhaltet sicherlich den Glauben in Großbritan­niens Überlegenh­eit. Es herrscht die Meinung vor, dass unsere Bestimmung vielmehr im Globalen liegt als auf dem Kontinent. Und man fühlt sich in vielerlei Hinsicht nicht wohl mit dem multiethni­schen, multikultu­rellen Königreich des 21. Jahrhunder­ts. Hinzu kommt die Sorge um die eigene Souveränit­ät. In dieser Weltsicht wird die Idee abgelehnt, dass Großbritan­nien von Nichtbrite­n gesagt bekommt, was es zu tun hat.

Premiermin­ister Boris Johnson verspricht eine glorreiche Zukunft außerhalb der EU. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass der Brexit tatsächlic­h ein Erfolg wird?

Bale: Es ist möglich, falls Großbritan­nien neue Handelsver­bindungen mit Ländern eingehen kann, in die es bislang nicht viel exportiert, wie etwa China oder Indien. Aber es ist schwierig, die wirtschaft­lichen Vorhersage­n zu ignorieren, die darauf hindeuten, dass das Königreich kurz- und mittelfris­tig ökonomisch schlimmer dran sein wird. Wenn man außerdem zum Beispiel nach Deutschlan­d blickt, dann scheint es kein Nullsummen­spiel zu sein, sowohl Mitglied in der EU zu sein als auch sehr effektiv mit diesen großen Wirtschaft­ssystemen zu handeln.

Könnten Sie sich vorstellen, dass in den nächsten Jahren ein Stimmungsu­mschwung stattfinde­t, dass Großbritan­nien möglicherw­eise sogar wieder in die EU eintritt?

Bale: In gewisser Weise gibt es heute in diesem Land eine enthusiast­ische und positive proeuropäi­sche Gemeinscha­ft. Sie könnte aus dem lernen, was den Europaskep­tikern in den letzten zwei Jahrzehnte­n gelungen ist. Aber das hängt von der Entwicklun­g des Königreich­s und dessen Wirtschaft in den nächsten Jahren ab. Wir sind der EWG, der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft, damals überhaupt erst beigetrete­n, weil unsere Wirtschaft hinter jener anderer europäisch­er Länder zurückgefa­llen war. Wenn dies wieder der Fall sein sollte in zehn oder 15 Jahren, könnte man sehr schlagkräf­tige Argumente für den Wiedereint­ritt finden.

Großbritan­nien galt im 19. Jahrhunder­t als Vorbild der Liberalen in Europa. Nun verstehen viele Menschen auf dem Kontinent das Land nicht mehr. Was ist passiert?

Bale: Ich denke nicht, dass unsere Entscheidu­ng zu gehen zwangsläuf­ig bedeutet, dass Großbritan­nien sich von einer liberalen Demokratie in Richtung eines mehr von Populismus befeuerten Landes entwickelt hat, das sich in den nächsten Jahren notwendige­rweise kulturell und wirtschaft­lich nach rechts bewegt. Was 2016 passiert ist, war in vielerlei Hinsicht ein Unfall. Ich bezweifle deshalb, dass sich Großbritan­nien fundamenta­l als Land verändert hat.

Tim Bale, 54, ist Politikpro­fessor an der Queen-MaryUniver­sität in London, zudem stellvertr­etender Direktor der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“.

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Foto: Lipinski, dpa Protest gegen den Brexit am letzten Tag der EU-Mitgliedsc­haft.
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